Die Sternseherin
er schon verkraften. Komm, lass uns gehen, außerhalb der Öffnungszeiten habe auch ich keine Chance, hineinzukommen.«
Der Weg über die marmornen Stufen des Bibliotheksgebäudes verlieh ihr wenig später ein Gefühl von Erhabenheit, das zarteren Gemütern in der riesigen Eingangshalle zwischen überlebensgroßen Statuen allerdings wieder abhandenkommen konnte. Neben dem Eingang zur eigentlichen Bibliothek schaute ein Philosoph milde von seinem Gemälde auf die Besucher herab und stützte sich dabei auf einen Stapel Bücher, deren Inhalt nicht für die Augen anderer bestimmt zu sein schien. »Das werden wir ja sehen!«, flüsterte Estelle, folgte Ben durch die hohen Türen und blieb wie angewurzelt auf dem dicken Teppich stehen, der gewiss jeden Laut verschlucken würde, sollte es jemand wagen, hier etwas herunterfallen zu lassen. Der Anblick einer Ansammlung geballten Wissens verschlug ihr regelmäßig den Atem. Regale aus poliertem Holz, gefüllt mit Hunderten von Büchern, bedeckten die Wände und bildeten Nischen, die mit Lesepulten ausgestattet waren, an denen sich manch ein Kopf im warmen Licht der Schreibtischlampe über Folianten oder Handschriften beugte. Wendeltreppen führten zur Galerie hinauf, auf der im Dämmerlicht unter der gewölbten und prächtig ausgemalten Decke weitere Regale ausgewählte Kostbarkeiten der Buchkunst beherbergten.
Ein Räuspern ließ sie herumfahren und direkt in das Gesicht eines Bibliotheksmitarbeiters blicken, der hinter seinem mächtigen Schreibtisch stand und die beiden Besucher von oben herab musterte.
»Wenigstens braucht der keine Leiter, um an die oberen Regalreihen zu gelangen«, flüsterte sie Ben zu. Die Mundwinkel des Mannes senkten sich noch weiter, was Estelle nicht für möglich gehalten hätte. Sichtlich widerwillig zog er Bens Chipkarte durch ein Lesegerät, auf dem ein grünes Licht erschien.
»Pst, habe ich dich nicht vor den Ungeheuern gewarnt?«, entgegnete der Freund. Laut sagte er: »Meine Bekannte hätte gerne einen Tagesausweis.« Er nahm seine Karte entgegen und Estelle reichte dem Mann ihre Papiere.
»So einfach ist das nicht, sie ist Ausländerin«, stellte er nach einem kurzen Blick fest und hielt ihren Ausweis spitz zwischen zwei Fingern, ein wenig so, als habe er ihn gerade aus einer ekligen Flüssigkeit gefischt.
»Ich bürge für sie.« Ben klang ärgerlich.
»Das kann nur ein Vollmitglied.« Der Bibliotheksmitarbeiter tat so, als sähe er sich suchend um. »Und soweit ich weiß, ist Ihr ›Bekannter‹ nicht in der Stadt.« Seine Mundwinkel senkten sich bei diesen Worten noch ein wenig mehr herab. Das war nicht nett. Nachdem Estelle kurz seine Gedanken berührt hatte, einen tieferen Blick wagte sie aus Angst vor einem Anfall nicht, war ihr klar, dass er zwar die Wahrheit sagte, sie aber sowieso in jedem Fall für ihre freche Bemerkung bestrafen wollte. Eine Entschuldigung würde ihn vielleicht milde stimmen, einen Versuch war es jedenfalls wert. »Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Junges Fräulein, ich entscheide nicht nach Sympathie«, und seine Miene machte deutlich, dass die beiden Besucher in diesem Fall nie eine Chance bekommen hätten, die »heiligen Hallen« zu betreten. »In unserem Haus hat alles seine Ordnung, und Ausländern ist der Zugang nur gestattet, wenn mindestens zwei Vollmitglieder bürgen.«
»Was ist das hier? Ein High-Society-Golfplatz, oder was?« Ein Zischen von einem der Leseplätze war die prompte Antwort auf Bens Ausbruch. Köpfe hoben sich und strafende Blicke trafen sie.
Er ignorierte es und fuhr fort, nun allerdings wieder mit gedämpfter Stimme, mit dem Bibliothekar zu diskutieren. Die Köpfe senkten sich, doch Estelle wurde die Situation allmählich peinlich. Irgendwie würde sie schon Zutritt zu der Bibliothek bekommen, vielleicht wusste Manon Rat oder Asher. Ein warmer Hauch strich bei diesem Gedanken durch ihren Kopf. Am liebsten hätte sie sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und sich ganz von seinem Duft einhüllen lassen. Ihre Hand ertastete das Taschentuch, das sie seit ihrer ersten Begegnung stets mit sich herumtrug. Estelle hatte es inzwischen gewaschen und sorgfältig gebügelt. Auf dem Rückweg würde sie am Buchladen vorbeigehen und es seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben. Sie erinnerte sich daran, wie Asher sie zum Tee eingeladen hatte – so unsicher, als war er davon ausgegangen, dass sie sowieso ablehnen würde; und wie er sie über den Tassenrand
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