Die Sternseherin
angesehen hatte, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht. Manons Bücherwurm war so ganz anderes als der freche Julen – geradezu rührend in seiner altmodisch zurückhaltenden Art.
»Komm schon!« Bens Stimme holte sie zurück in die Bibliothek. »Du hast es dir doch jetzt nicht etwa anders überlegt?«
Estelle nahm erstaunt eine Tagesberechtigung mit ihrem Namen und ordentlich abgestempelt entgegen und folgte ihrem Studienfreund in den Saal, wo sie wisperte: »Was war das denn?«
»Während du geträumt hast, ist eine sehr merkwürdige Wandlung in dem Zerberus dort an der Pforte vorgegangen. Ich war schon drauf und dran, ihm seinen mageren Hals umzudrehen, da bekam er plötzlich einen Blick, als habe ihn der Heilige Geist gestreift, und ehe ich noch wusste, was los war, hatte er schon dieses Papier unterschrieben. Du musst demnächst nur noch ein Passbild vorbeibringen, dann bekommst du einen hochoffiziellen Ausweis.«
Magie. Estelle argwöhnte, dass hier jemand mithilfe von Magie dem langen Kerl die Sinne verdreht hatte. Sie selbst konnte es nicht gewesen sein, bedauerlicherweise gingen ihre Fähigkeiten auch an guten Tagen selten über einen kleinen Vergessenszauber hinaus. Ob Julen seine Finger im Spiel hatte? Suchend sah sie sich um, konnte aber niemanden sehen oder spüren und gab das Unterfangen auf. Wenn der Elf sich zu erkennen geben wollte, täte er es irgendwann. Bis dahin hatte sie Wichtigeres zu tun, schließlich war sie hier, um Hinweise auf sein Grimoire zu finden. Dabei musste sie sich auf ihre Intuition verlassen und konnte keine Zeugen gebrauchen. Auch Julen nicht.
Zu ihrer großen Erleichterung ließ sich Ben auf einen Stuhl fallen, knipste das Leselicht an und tippte auf einen abgegriffenen Krimi, den er aus seiner Hosentasche gezogen hatte. »Gut, dass ich immer etwas zu lesen dabei habe! Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Liebe Güte, er brachte ein eigenes Buch mit, um es inmitten dieser fantastischen Bibliothek zu lesen. Estelle schüttelte sich innerlich. Nach kurzer Überlegung beschloss sie, auf der Galerie mit ihrer Suche zu beginnen. Dort oben, das war dem Bibliotheksplan zu entnehmen gewesen, der am Eingang im Stil einer alten Karte aushing, wurden die weniger begehrten Bände aufbewahrt und genau auf diese Quellen hatte sie es abgesehen. Heutzutage befasste sich kaum jemand mit Alchemie und den dunklen Künsten selbsternannter Zauberer. Dieses Desinteresse war der magischen Welt gerade recht. Wenn es stimmte, dass, wie Julen erzählt hatte, durch die Jahrhunderte immer wieder nach den Aufzeichnungen gefahndet worden war, dann gab es mehrere Möglichkeiten. Entweder die Hinweise auf den Verbleib des Grimoires waren sehr gut versteckt, dann würden sie kaum in dieser Bibliothek zu finden sein, oder sie standen so offensichtlich zwischen den Zeilen längst vergessener mystischer Schriften, dass sie deshalb bisher niemand entdeckt hatte. An eine weitere Möglichkeit wollte sie lieber nicht denken, denn dann war ihr Unternehmen hier hoffnungslos. Sie hoffte, mithilfe des Zaubers ihre Kräfte endlich beherrschen zu können, und für Julen war das Buch vielleicht die einzige Hoffnung, seinen in der Zwischenwelt gefangenen Zwillingsbruder jemals wiederzusehen. Also hinauf! Lautlos zog sie sich zwischen die Regale zurück, wo sie unbeobachtet ihre Schuhe auszog. Die dicken Sohlen verhinderten ihre Erdung. Schon als Kinder waren die Feenschwestern am liebsten barfüßig herumgelaufen und ihre wunderbare Mutter hatte, anders als die Eltern ihrer Freundinnen, nie darüber geschimpft. Bevor die Erinnerung sie überwältigen konnte, eilte sie mit den Schnürstiefeln in der Hand die nächstgelegene Wendeltreppe hinauf und verharrte einen Augenblick, um in den Saal hinabzublicken. Dort unten saß Ben. In seiner typischen Vorlesungshaltung lümmelte er im Stuhl und las. Sie lachte leise und genoss noch für einen Moment die Atmosphäre der wunderbaren Bibliothek. Die Luft war schwer vom Aroma der ledernen Einbände, es roch nach altem Papier und Staub. So sehr man sich auch mithilfe moderner Technik bemühte, der Zauber gesammelten Wissens war immer auch eine Geschichte von Vergessen und Vergehen. Doch für Estelle kam es einer Zen-Meditation gleich, von alten Büchern umgeben zu sein, und die Ruhe, die sie dabei fühlte, war die perfekte Vorbereitung für das, was nun kommen sollte.
Für ihre Schuhe fand sich ein Versteck hinter einer Holzleiter. Die würde schon niemand benutzen,
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