Die Sternseherin
Estelle ließ sich seufzend auf einem unbequemen Stuhl nieder und sah seinen üblicherweise äußerst erhellenden Ausführungen entgegen. Ihr Sitznachbar Ben grinste: »Nett, dich wieder einmal zu sehen!«
»Dito!«, zischte Estelle zurück und prompt hörte sie eine Reihe weiter unten: »Pst!«
»Hab ich was verpasst?«, fragte sie leiser.
»Nö, nichts hat sich geändert!« Ben schlug mit seinem Notizheft auf den Kopf der unter ihnen sitzenden Mary. »Stimmt doch, oder?«
»Halt den Mund!«, war ihre Antwort.
Heute war, was Estelle ihren »Marathontag« nannte. Die Hörsäle lagen weit auseinander und sie musste sich dieses Mal sogar aus der Vorlesung »Mittelalterliche Erzählmodelle« schleichen, die wie üblich zu spät begonnen hatte, weil der Dozent seine Pfeife neuerdings nicht mehr im Gebäude genießen durfte und deshalb gemeinsam mit anderen Rauchern in einer trostlosen Ecke am Rande eines kleinen Parks qualmte. Atemlos erreichte sie ihre letzte Veranstaltung für diesen Tag, als der Professor gerade die Türen schließen wollte. Unter seinem strengen Blick ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, den Ben ihr frei gehalten hatte. Eine gute Stunde später begleitete er Estelle hinaus. »Geht es dir nicht gut?« Als sie nicht antwortete, sagte er nach einem weiteren prüfenden Blick: »Ich sterbe für einen Kaffee mit extra viel Schlagsahne.«
Im selben Moment spürte Estelle die Präsenz eines magischen Wesens.
»Mist!«
»Du musst es nur sagen, dann lasse ich dich in Frieden«, Ben legte seinen Kopf schräg und sah sie an.
»Unfug, komm schon!« Sie zerrte den verdutzten Freund hinter sich her und gab keine Ruhe, bis beide an einem blank polierten Tisch saßen. Wer hier einkehrte, genoss die Kaffeehausatmosphäre. Das Gemurmel der Gäste wurde nur gelegentlich vom Klirren eines Kaffeelöffels auf edlem Porzellan gestört, die Kellner bewegten sich nahezu lautlos zwischen den Tischen und servierten mit elegantem Flair kontinentale Köstlichkeiten. Normalerweise trafen sie sich mit Rücksicht auf Manons Finanzen in der einfachen Teestube, die ein paar Häuser weiter zu finden war. Aber manchmal musste dieser Luxus einfach sein.
»Vor wem bist du nun wieder auf der Flucht?« Es war nicht das erste Mal, dass Ben sie so nervös erlebte. Von ihren Visionen ahnte er allerdings nichts. »Einem Verehrer oder«, er beugte sich vor, »einer finsteren Kreatur?«
»Weder noch!« Estelle sandte ihre Gedanken aus und fand nichts. Dennoch hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. »Deine Fantasie geht mit dir durch. Erzähl mir lieber, wo du dich in den letzten Wochen herumgetrieben hast.«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Keine Ahnung. Da war dieser unglaublich gut aussehende Mann«, begann Ben und ignorierte ihren Kommentar. »Jedes Mal, wenn ich ihn ansprechen wollte, war er verschwunden. Erst dachte ich, es sei ein Spiel und er würde mit mir flirten, aber irgendwann lief das Ganze aus dem Ruder. Ich begann von ihm zu träumen, und glaube mir oder nicht, aber ich könnte schwören, dass er eines Nachts in mein Schlafzimmer kam und mir befahl, von hier fortzugehen. Ich kann dir das nicht erklären, es war wie ein Zwang, ich habe meine Sachen gepackt und bin abgehauen.«
»Wohin?«
Ben lachte verlegen. »Zu einer Freundin. Sie wohnt in einem Cottage oben in den Bergen, man kann dort prima fischen und überhaupt seine Ruhe haben. Sie ist zwar etwas verrückt, aber sie hat es geschafft, mich diesen unheimlichen Fremden vergessen zu lassen. Voilà, da bin ich wieder!«
Estelle war sich nicht sicher, was sie von der Geschichte halten sollte. »Na ja, vielleicht hast du einfach mal eine Auszeit gebraucht.« Dann lächelte sie. »Wo wir gerade bei finsteren Gestalten sind, ich müsste in der Seanachas-Bibliothek etwas nachsehen und habe keine Ahnung, ob ich mit meinem Studentenausweis überhaupt Zugang habe.«
»Ah, ja. Da brauchst du natürlich mich. Bibliothekare, das weiß man doch, sind ein gefährliches Völkchen!«, witzelte er und Estelle dachte nur: »Hast du eine Ahnung!«
»Das ist dein Glückstag.« Ben zog eine Karte aus der Brieftasche. »Ich wollte sowieso dorthin.«
Estelle erspähte den Namen eines bekannten Historikers, mit dem Ben, wie er behauptete, eine rein platonische Freundschaft verband. »Weiß er davon?«
Als Angehörigem des britischen Hochadels öffneten sich für Bens Freund Türen, von deren Existenz ein Normalsterblicher selten überhaupt etwas ahnte.
»Das wird
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