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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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beruhigte sie ihr Gewissen und spähte in einen dunklen Gang hinein, den sie von unten gar nicht gesehen hatte. Womöglich führte er in verborgene Schatzkammern der Bibliothek, ihn würde sie später erkunden. Solange sich aber niemand auf der Galerie befand, wollte Estelle die vorderen Regale durchgehen. Mit halbgeschlossenen Augen begann sie schließlich ihre Mission. Die Handflächen nach oben, mit ihren bloßen Füßen tief im plüschigen Teppich versunken, ging sie langsam seitwärts an den Regalen entlang und öffnete sich für die Geheimnisse der Bücher, an denen sie vorüberschritt. Manche entlockten ihr ein Lächeln, andere wirkten tragisch in ihrer Einsamkeit. Zu lange war es her, dass jemand sie in der Hand gehalten, sie abgestaubt und behutsam geöffnet hatte, um ihre Botschaften zu empfangen. Das eine oder andere Mal berührte sie die gekrümmten Rücken, fühlte das trockene Leder unter den Fingerspitzen und hätte am liebsten Erste Hilfe geleistet, wenn sie unter ihrer Berührung ächzten. Hier oben wohnten wahrlich die verlorenen Seelen der Bibliothek. Hatte der lange Kerl am Eingang wirklich nichts Besseres zu tun, als Besucher zu schikanieren? Manchmal zog sie auch ein Buch heraus, strich über den Einband, schlug ihn sogar ein- oder zweimal auf und lauschte den Worten in fremden Zungen, die eingesperrt zwischen Leder und Leim ein Schattendasein fristeten. Eine Holzdiele knarrte, erschrocken wandte sie sich um. Nichts. Es war wohl der eigene Schritt, der ihre Konzentration zerriss, als wäre sie ein feines Netz. Das heftige Herzklopfen verwehrte den Weg zurück und enttäuscht ließ Estelle ihre Arme sinken. Doch als sie sich umblickte, stellte sie fest, dass sie fast die gesamte Galerie umrundet hatte. Sie beugte sich über das Geländer und spähte hinab. Richtig, dort unten saß Ben in unveränderter Haltung, war er etwa über dem angeblich so faszinierenden Krimi eingeschlafen? Die Armbanduhr signalisierte, dass noch eine ganze Stunde Zeit blieb, bis die Bibliothek schließen würde, und Estelle beschloss, den Seitengang zu erkunden, der ihr zu Anfang aufgefallen war. Zielstrebig löste sie das rote Seil, an dem ein Messingschild baumelte, auf dem in geschwungener Schrift das Wort »Privat« eingraviert war. Sie hängte es hinter sich wieder ein und betrat den Gang. Irgendetwas schien hier anders zu sein. Das mulmige Gefühl, das sie befiel, als sie weiter in das verbotene Terrain vordrang, wurde mit jedem Schritt intensiver. Für einen Augenblick fürchtete Estelle, dass ihre Schonzeit vorüber war und sich ein neuer Anfall ankündigte, aber vom bisherigen Erfolg ermutigt, lauschte sie dennoch in die Dunkelheit und lief im selben Moment gegen eine Mauer. Während die mentale Barriere, mit der sie kollidierte, kalt und abweisend in unendliche Höhen wuchs, erwies sich das reale Hindernis als sehr lebendig, warm und – männlich. Bevor er mit gedämpfter Stimme fragte, was sie hier zu suchen habe, wusste Estelle, wem die erstaunlich breite Brust gehörte, an die sie nun ein kräftiger Arm drückte. Ihre Nasenflügel bebten. »Asher, was tust du hier? Lass mich sofort los!« Ihre Stimme enthielt eine Spur Panik, wurde aber vom feinen Kaschmir seines Pullovers gedämpft.
    »Ich arbeite hier.« Sie glaubte, Belustigung in seiner Stimme zu hören, und kam sich ein wenig idiotisch vor. Von einem Bücherwurm hatte sie wahrlich wenig zu befürchten. Doch hinter ihm schien etwas anderes zu lauern, ein mächtiges, magisches Geschöpf. Estelle war noch nie zuvor einer ähnlich perfekten mentalen Barriere begegnet wie der des Ungeheuers, das sich im Dunkel vor ihr verbarg. Oder doch! Der finstere Gefährte ihrer Schwester fühlte sich ganz ähnlich an, wenn er es vorzog, nicht von ihr gelesen zu werden, was bei ihren seltenen Begegnungen meistens der Fall war.
    Ein Vampir!
    Zwischen den Regalen lauerte ein blutrünstiges Wesen, und der Bibliothekar hatte keine Ahnung von der Gefahr, in der er schwebte. Estelle erinnerte sich an ihr Versprechen, nett zu ihm zu sein. Besser, sie brachte ihn in Sicherheit. Doch dafür musste sie sich erst einmal befreien. Sie stemmte beide Hände gegen seine Brust und ihre Finger fühlten zu ihrer Überraschung nichts als harte Muskulatur. Manche Leute hatten einfach unverschämtes Glück. Sie selbst quälte sich mit täglichen Übungen, während andere offenbar schon vom Herumtragen antiken Lesestoffs einen so durchtrainierten Körper wie den seinen bekamen. »Wir müssen

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