Die Sternseherin
Ich weiß nicht, warum wir ihm trotzdem gehorchten, aber es war eben eine andere Zeit.«
Estelle hätte gerne gewusst, von welcher Zeit er genau sprach, aber sie wagte es nicht, ihn zu unterbrechen.
Julen blickte an ihr vorbei, auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne. »Als ich längst erwachsen war, plagte mich eine große Unruhe, und schließlich verließ ich meine Pflegefamilie, um Gunnar zu suchen. Unterwegs traf mich die tiefe Verzweiflung, die plötzlich von ihm auszugehen schien, wie ein Faustschlag. Als ich seine neue Familie endlich gefunden hatte, war er fort. Er wäre mitten in der Nacht verschwunden, erzählte man mir. Niemand wusste, was geschehen war. Und das Schlimmste: So sehr ich mich bemühte, ich konnte ihn auch mental nicht mehr erreichen. Der Verlust war so schmerzhaft, als hätte jemand meine Seele herausgerissen.
Viel später erst erkannte ich, was damals geschehen sein musste. Als meine Gabe sich zum ersten Mal zeigte, hatte Gunnar mich auf einmal nicht mehr spüren können. Er muss geglaubt haben, ich sei tot. In seiner Trauer war er davongelaufen. Später erfuhr ich von den Gerüchten, genau zu jener Zeit wäre jemand in die Zwischenwelt verschleppt worden.«
Zum ersten Mal entdeckte Estelle eine Gefühlsregung in Julens Augen. Kaum merklich erweiterten sich seine Pupillen bei diesem letzten Satz. Davon, dass sie seine Emotionen auch jetzt nicht fühlen konnte, ließ sie sich nicht entmutigen. Estelle hatte von der Zwischenwelt, einer Dimension, die den unterschiedlichsten Kreaturen als Refugium, manchmal aber auch als Ort der Verbannung diente, gehört. Doch als sie mehr darüber erfahren wollte, war Nuriya in ihren Erklärungen vage geblieben, als wisse sie selbst nicht alles darüber.
»Soweit ich weiß, ist es kein Sonntagsspaziergang, jemanden daraus zu befreien.«
»Aber es ist möglich!« Julen berührte eine Kette mit einem muschelförmigen Anhänger.
Diese Geste war ihr schon häufiger aufgefallen. »Vorausgesetzt, man besitzt etwas, was dem Verschollenen lieb und teuer war«, sagte sie spontan.
»Woher ...?« Dann lächelte er. »Natürlich, du bist schließlich eine Feentochter. Was soll ich sagen? Mutter hat uns die Glücksbringer zum zehnten Geburtstag geschenkt. Als Beweis unserer Zusammengehörigkeit haben wir sie untereinander ausgetauscht.«
Er erinnerte sich wehmütig an das feierliche Ritual, das die beiden Kinder zur Mittsommernacht im hellen Mondlicht begangen hatten »Der Talisman ist alles, was mir von Gunnar geblieben ist.« Doch ohne den Zauber war der Anhänger nicht mehr als eine Erinnerung an glücklichere Tage, dachte er und bemerkte nicht, wie sich ihre Miene verfinsterte.
»Und du glaubst, der Schlüssel zur Befreiung Gunnars befände sich in dem Grimoire! Hast du mir deshalb davon erzählt? Julen, ich weiß nicht, was das für ein Spiel ist, das du mit mir spielst. Aber ich lasse mich ungern benutzen. Hättest du mich um Hilfe bei der Suche nach dem Grimoire gebeten, ich hätte dich auf jeden Fall unterstützt. Aber mir vorzugaukeln, es gäbe darin auch eine Lösung für meine Probleme, das finde ich ...« Die Stimme versagte ihr. »Bring mich hier fort!«
»Estelle ...!«
»Jetzt! Und wage es ja nicht, mich irgendwo in der Zwischenwelt auszusetzen!« Wortlos verließen beide das Bistro.
Sobald Julen sie vor ihrem Haus abgesetzt hatte, riss Estelle sich los.
»Warte!«
Sie tat, als habe sie nichts gehört. Weil er ihr den Weg zum Hauseingang versperrte, drehte sie um und lief über den Hof. In der schmalen Gasse, die zur Straße führte, hatte Julen aufgeholt und hielt ihren Arm fest. »Bitte!«
Sie fuhr herum. »Ich weiß, dass du keine Gefühle hast. Also gaukle mir nicht den zerknirschten Sünder vor!« Estelle hatte kurz den Eindruck, Julen weiche vor ihr zurück. Ein Irrtum. Stattdessen trat er einen Schritt vor.
»Wie kommst du darauf, dass ich keine Gefühle hätte, nur weil du sie nicht lesen kannst?« Seine Stimme klang bitter. »Ja, ich habe gehofft, dass deine Fähigkeiten mir bei der Suche nach meinem Bruder helfen würden. Aber das war nicht der Grund, warum ich dich angesprochen habe.« Eine warme Hand umfasste ihr Kinn. »Estelle, du bist ein wunderbares Geschöpf, ich würde dich niemals hintergehen. Und ganz bestimmt nicht, nachdem ich dich besser kennengelernt habe.« Es schien, als wolle er noch mehr sagen, aber dann änderte sich sein Tonfall erneut. »Ehrlich gesagt, du hast deine Visionen so wenig unter Kontrolle –
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