Die Sternseherin
schon zu vermissen, sobald er am Abend auf seinem spartanischen Lager in der schäbigen Wohnung erwachte. Julen war vor ein paar Tagen sogar so weit gegangen, eines ihrer T-Shirts zu stehlen, das, wahrscheinlich zum Lüften, auf dem Balkon hing. Estelle hatte am nächsten Morgen angenommen, es sei vom Wind davongetragen worden, und ahnte nicht, dass es neben seinem Kopfkissen lag. Die Nasenflügel leicht gebläht genoss er das Original und – erstarrte. Etwas war anders. Eine neue Note war hinzugekommen und die gefiel ihm überhaupt nicht. Julen sandte seine mentalen Kräfte aus, er musste herausfinden, was hier vor sich ging. Der Weg zu Estelles Gedanken präsentierte sich ihm in Gestalt einer nächtlichen Landschaft. Behutsam überquerte er eine Wiese, die vom Mond in silbernes Licht getaucht war. Über ihm funkelten Sterne, doch er gönnte ihnen nur einen kurzen Blick. Ihr Geheimnis lag dort hinten, in einem Wald, der dunkel und immer höher vor ihm in den Nachthimmel ragte, je näher er kam. So konzentriert war er, die Quelle zu erreichen, dass er die Veränderungen um sich herum nicht bemerkte, bis es zu spät war.
»Tu das nie wieder!« Estelle fuhr herum und ihre Augen schienen Blitze zu schleudern. Die liebliche Landschaft verschwand, stattdessen taten sich dunkle Krater auf und Feuer versperrte seinen Weg.
Zwei Männer waren aufmerksam geworden und sahen Julen feindselig an. »Wenn wir dir helfen sollen, Schätzchen, brauchst du das nur zu sagen«, bot einer von ihnen, ein bulliger Mittzwanziger mit kurz geschorenem Haar, an und machte Anstalten aufzustehen.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Alles in Ordnung, er ist mein Freund!« Sichtlich enttäuscht setzt sich der Mann wieder hin, konnte sich aber nicht verkneifen zu drohen: »Du behandelst deine Perle besser anständig, sonst ist ruck, zuck die Fresse dick!«
Julen nickte, um die Situation nicht eskalieren zu lassen, legte besitzergreifend seinen Arm um Estelles Schulter und hielt sie an sich gepresst, bis ihre Station kam. Als sie ausstiegen, grölten die Männer ihnen ein paar anzügliche Bemerkungen hinterher, die ihren Puls in die Höhe schnellen ließen und ein verräterisches Ziehen in Julens Kiefer auslösten. Es dauerte einen Moment, bis er seine Blutlust so weit im Griff hatte, dass er wieder ohne das lästige Zischen reden konnte, das entstand, wenn Eckzähne zu lang wurden, um noch als kleine Anomalie der Natur gelten zu können. Estelle lief eilig die Straße entlang. Ob sie dies wegen des stärker werdenden Regens tat oder ob sie immer noch wütend auf ihn war, konnte er nicht erraten.
»Es tut mir leid!« Die Entschuldigung klang auch in seinen Ohren etwas glatt. Rasch fügte er hinzu: »Das hätte ich nicht tun dürfen, aber ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Warum?« Estelle hatte inzwischen den Hauseingang erreicht und stieß die Tür auf.
Julen wartete im Regen.
»Komm schon rein!« Wortlos folgte er ihr die Stufen hinauf in ihre Wohnung. Oben angekommen warf sie ihm ein Handtuch zu, damit er seine Haare trocknen konnte, und setzte Tee auf. Bis sie ihm eine dampfende Tasse über den Tisch zuschob, sprachen beide kein Wort. »Hör zu, wenn du etwas wissen willst, dann frag mich. Aber ich will nie wieder, dass du dich in meine Gedanken schleichst!« Sie sah ihn prüfend an. »Wobei, von Schleichen kann keine Rede sein. Daran solltest du dringend arbeiten!« Sie war immer noch ärgerlich, auch über ihre eigene Nachlässigkeit, sonst hätte sie nie ihren Finger in diese Wunde gelegt. Beim reflexhaften Versuch seine Gedanken zu erkunden, erwachte ihr Gewissen und Estelle zog sich sofort zurück. Sie war ja um keinen Deut besser. Alles, was sie aus seiner Miene lesen konnte, war ehrliche Sorge. Sie streckte ihre Hand aus. »Frieden?«
Julen schlug ein und die steile Falte auf seiner Stirn glättete sich wieder. »Hast du etwas in der Bibliothek gefunden?«
Wenn er wüsste! Sie erzählte ihm von ihrem gemeinsamen Besuch mit Ben. Dessen Mutmaßungen über ihr Sexualleben verschwieg sie dabei wohlweislich, selbst wenn er recht haben sollte, was sie nicht glaubte oder glauben wollte, wäre dies bestimmt kein Thema, das sie mit Julen diskutieren wollte. Ben hatte ihre Erschöpfung von der magischen Suche einfach falsch interpretiert, schließlich hatte er keine Ahnung, was sie auf der Galerie getan hatte. Du auch nicht!, wisperte eine kleine Stimme, doch Estelle war entschlossen, sie zu ignorieren. »Gestern habe ich nichts entdecken
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