Die Sternseherin
bringen. Bald aber wurden sie lauter und lauter, überlagerten alles und dröhnten schließlich wie die Bässe eines Höllenkonzertes in ihrem Kopf. Estelle hielt sich verzweifelt die Ohren zu. Hände berührten sie, Schatten tanzten vor ihren Augen, schließlich war es das Aroma ihres eigenen Blutes, das einen nie gekannten Kampfgeist in ihr weckte, und sie stemmte sich mit aller Kraft gegen das Tosen, bis es nachließ, der Sturm sich legte und zu guter Letzt nur noch ein laues Lüftchen geheimnisvolle Worte säuselte.
Estelle wurde klar, dass sie reagieren musste, als eine gedämpfte Stimme zum dritten Mal sagte: »Hallo? Bleiben Sie ganz ruhig liegen, ich rufe einen Arzt!«
Sie zwang sich, ihre Augen zu öffnen, und blickte in ein besorgtes Gesicht – die Bibliothekarin! »Es geht schon!« Ihr Körper schmerzte und sie erinnerte sich vage an einen dumpfen Schlag. Frustriert setzte sie sich auf und tastete ihren Kopf ab. Glücklicherweise fand sich nach der Inspektion kein Blut an den Fingerspitzen, aber zweifellos würde morgen eine mächtige Beule ihren Scheitel zieren. »Ich ...«, begann sie und hoffte auf eine Eingebung, um ihr zweifellos befremdliches Verhalten erklären zu können. Ringsherum lagen zahllose Bücher. Estelle stand auf und strich ihren Rock glatt. Am Gesichtsausdruck ihres Gegenübers konnte sie erkennen, dass die beruhigenden Gedanken, die sie dabei aussandte, schließlich zu wirken begannen. Ihr war schwindelig von dieser Anstrengung und sie holte tief Luft, bevor sie erklärte: »Ich wollte ein Buch herausziehen und plötzlich purzelten alle anderen hinterher.« Die Lüge kam ihr erschreckend routiniert über die Lippen.
Die Frau entspannte sich und erwiderte schließlich sogar ihr Lächeln. »Das kann passieren, wir haben einfach nicht genügend Platz und die Bücher stehen viel zu dicht. Lassen Sie nur!« Sie legte eine Hand auf Estelles Arm und ging selbst in die Hocke. Ein besonders altes Exemplar lag aufgeschlagen, die Seiten nach unten. »Sie haben Glück, dass um diese Zeit außer mir niemand vom Personal hier ist. Mein Kollege hätte einen Herzschlag bekommen.« Beinahe liebevoll entfernte sie ein Eselsohr, das zweifellos auf den Sturz zurückzuführen war, klappte das Buch zu und strich über jeden Einband, bevor sie eines nach dem anderen ins Regal zurückstellte.
Estelle griff unauffällig nach ihren Schuhen und folgte ihrer Retterin zum Ausgang, nahm den Leseausweis entgegen und bedankte sich noch einmal bei ihr. Zu ihrer Überraschung blinzelte diese ihr daraufhin zu. »Wir Frauen müssen doch zusammenhalten!«
Draußen hatte der Sonnenuntergang die grauen Steinquader der hoch über ihr thronenden Altstadt in erhabenes Gold getaucht, und Estelle blieb einen Augenblick stehen, um das Farbenspiel zu genießen. Diese Stadt überraschte sie jeden Tag mit neuen Ansichten und ihre Bewohner waren weit herzlicher, als sie es aus Paris kannte. Hier könnte sie sich wohlfühlen – wenn, ja wenn nur die Anfälle nicht wären. Langsam kroch ein dunkles Rot über die Hauswände, bis sie schließlich ganz schwarz wurden. Die Sonne war untergegangen und wie auf Bestellung begann es zu nieseln.
»Hier muss man seinen Schirm so häufig auf- und zuklappen, dass das allein schon eine gute Erklärung für den ständig wehenden Wind wäre.«
Estelle zog eine Wollmütze aus der Tasche, setzte sie auf und drehte sich um. »Ich bin unschuldig, ich besitze keinen Schirm. Julen, was machst du denn hier?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen, ich dachte du wärst an der Uni.«
»Ich habe nach Hinweisen auf das Grimoire gesucht.« Sie verspürte wenig Lust, ihm zu gestehen, dass sie verschlafen hatte und sich nicht erinnern konnte, was während ihrer gestrigen Suche in der Bibliothek vorgefallen war. Wenn sie sich in Zukunft jeden Morgen wie nach einer langen Liebesnacht fühlte, dann verlor die Aussicht, allmählich den Verstand zu verlieren, beinahe ihren Schrecken. Um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen, schritt sie kräftig aus und das Glück war ihr hold, denn ihr Bus bog in diesem Augenblick um die Ecke. Sie begann zu rennen und Julen folgte ihr mühelos, er stieg ebenfalls ein.
Das schwankende Gefährt zählte nicht zu seinen bevorzugten Aufenthaltsorten, aber in den Kurven an die Feentochter gepresst zu werden, machte ihre Wahl des Verkehrsmittels wett. Er genoss einen Augenblick länger als notwendig die Wärme ihres Körpers. Ihren verführerischen Duft begann er inzwischen
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