Die Sternseherin
geöffnet und ein behandschuhter Arm streckte sich ihr entgegen. Sie warf Julen, der draußen stand und es fertigbrachte, lässig und trotz ausgewaschener Jeans irgendwie nicht fehl am Platz zu wirken, einen verdrossenen Blick zu. Nicht ohne Humor dachte sie an ihren schlichten, karierten Rock und die nicht mehr ganz sauberen Stiefel. Sie kam sich vor wie Aschenputtel. Am liebsten wäre sie überhaupt nicht ausgestiegen und hätte sich stattdessen in das nächste Einkaufszentrum fahren lassen. Julen sah sich fragend nach ihr um, und weil sie weiß Gott nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt notwendig erregen wollte, stieg sie doch aus. Draußen zog sie den Gürtel des Trenchcoats enger und hob ihren Kopf. Schäbige Kleidung liegt gerade voll im Trend, sollte ihr strahlendes Lächeln ausdrücken, das sie dem Portier schenkte. Julen hakte sich bei ihr unter und flüsterte: »Mein Augenstern, du siehst hinreißend aus!« Damit geleitete er sie in die Halle. Estelle, die es nicht gewohnt war, in teuren Hotels abzusteigen, schaute sich etwas orientierungslos und mit großen Augen um. Wohin jetzt? Toskanische Säulen aus Marmor, ein blank polierter Parkettboden, riesige Blumengestecke und nagelneue Stilmöbel, das kam ihr doch alles etwas zu sehr wie Disneyland vor, um authentisch zu wirken. Julen schien ihre Gedanken zu ahnen und erklärte, dass sie sich in einer ehemaligen Bank befänden, die finanzkräftige Investoren vor einigen Jahren zu einem First-Class-Hotel hatten umbauen lassen. Fast entschuldigend fügte er hinzu: »Das Trinity College ist direkt gegenüber.«
Sie hätte sich nicht einmal beschwert, wenn die Bibliothek auf der anderen Seite der Stadt gewesen wäre. Anmeldeformalitäten schien es hier nicht zu geben, sie erhielten ihre Zimmerschlüssel und eine Ec-Karte, mit der auch in den Restaurants sowie in der Boutique des Hotels bezahlt werden konnte, erklärte der Concierge und wünschte ihnen eine gute Nacht. Eine seltsame Wortwahl, fand Estelle, denn es war erst früher Abend. Ein junger Mann in tadellos sitzender Livree erschien mit ihrem Gepäck und begleitete sie zu Estelles Zimmer. Vor der Tür erinnerte sie sich an ihre Einkaufspläne und blieb abrupt stehen.
»Ich brauche etwas zum Anziehen!«
Julen sah sie von oben bis unten an. »Und ich hatte gehofft, das Gegenteil wäre der Fall.« Der Bellboy begann zu grinsen, fing sich aber rasch und setzte ein möglichst ausdrucksloses Gesicht auf.
Estelle beschloss, den Kommentar zu ignorieren, schließlich war sie eine Lady, oder etwa nicht? »Ich habe das Wetter falsch eingeschätzt und werde für morgen etwas einkaufen müssen.«
Julen zuckte mit den Schultern. »Gut, ich komme mit.«
»Ganz sicher nicht! Mit einem Mann einzukaufen dauert Stunden.«
Er lachte und wirkte nicht besonders unglücklich. »In Ordnung. Nimm aber bitte ein Taxi, und wenn du schon dabei bist, dann bring dir auch gleich etwas für heute Abend mit, wir gehen aus.«
»So, tun wir das?« Sehr begeistert war sie nicht darüber, dass er über ihren Kopf hinweg entschied, aber eigentlich hatte sie Lust, sich abzulenken, um nicht unentwegt über die für morgen geplante Suche nach neuen Hinweisen nachzudenken. Das Nachtleben der Stadt zu erkunden war eine willkommene Abwechslung, besonders nachdem ihr letzter Ausflug so unglücklich im Streit geendet hatte. Der Junge räusperte sich. »Die Geschäfte schließen in einer Stunde«, gab er zu bedenken und seine Stimme ließ deutlich erkennen, wie gering er die Chancen einschätzte, dass dieser kapriziöse Gast in entsprechend kurzer Zeit seine Einkäufe würde erledigen können. Hatte der eine Ahnung!
Estelle wirbelte herum. »Na, dann los, wir sehen uns später!«, rief sie über ihre Schulter.
Bei ihrer Rückkehr eilte Estelle eine Rezeptionsmitarbeiterin entgegen und überreichte ihr einen Umschlag. Julen ließ sich entschuldigen, las sie auf der darin steckenden Karte. Er würde sie gegen 23 Uhr in ihrem Zimmer abholen.
Obwohl sie sich fragte, was er wohl zu erledigen habe, wenn er vor wenigen Stunden noch nicht einmal wusste, dass sie nach Dublin reisen würden, störte sie seine Abwesenheit nicht weiter. Irland war schließlich Feenland, und was wusste sie schon von den Sitten und Gepflogenheiten eines Elfs?
Nach dem dritten Versuch ihre Zimmertür mit der Karte zu öffnen, leuchtete endlich ein grünes Licht auf und sie betrat die Suite. Da hatte sie, kleines Schäfchen, in ihrer Naivität geglaubt, das Teuerste der
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