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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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ihren normalen Dienst wieder aufnehmen würden. Aber die Natur musste dieses Mal ihr Werk ohne seine Bewunderung vollenden. Julen zog das mitgebrachte Hemd an und schlenderte aus dem Bad, während er die Manschettenknöpfe schloss. Dabei fiel sein Blick auf den Mantel.
    »Der ist hin!« Ärgerlich betrachtete er den zerfetzten Stoff und ihm entging unterdessen Estelles fassungsloser Gesichtsausdruck.
    »Wenn das deine einzige Sorge ist!« Ihre Stimme hätte ihn warnen sollen, aber er war in Gedanken noch bei dem ruinierten Kleidungsstück, das eine ganze Menge Geld gekostet hatte. Obwohl er nicht arm war, schmerzte ihn der Verlust. »Diese Bastarde, das war mein Lieblingsmantel!«
    »Ach, deshalb hast du sie getötet!«
    »Wenn du wirklich alles beobachtet hast, dann weißt du, dass ich keine andere Wahl hatte. Aber ich habe dich nicht fortgeschickt, damit du dich zurückschleichst und den Kampf beobachtest.« Ihr schnippischer Ton ging ihm ein bisschen auf die Nerven. »Warum hast du mir nicht gehorcht?« Das Wort war kaum ausgesprochen, da erkannte er, dass er einen Fehler begangen hatte.
    »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?« Estelle sprang auf. »Ich bin es so leid, von irgendwelchen Machos mit Über-Ego drangsaliert zu werden. Ich habe geglaubt, du bist anders, einer von uns eben. Aber du bist keinen Deut besser als Kieran!« Wütend rüttelte sie am Türgriff, der sich trotz ihres verbissenen Versuchs keinen Millimeter bewegte. »Mach sofort auf!«
    »Estelle!«
    »Ich will in mein Zimmer!«
    Julen sah ein, dass momentan kein vernünftiges Wort mit der hysterischen Feentochter zu wechseln war. Sie hatte Fürchterliches gesehen und stand unter Schock. Ihre Reaktion war völlig normal. Seine Anstrengungen, sie mental zu beruhigen, zeigten wenig Wirkung, schließlich aber gelang es ihm, ihre Hand vom Türgriff zu lösen und sie an sich zu ziehen. Er wiegte Estelle wie ein Kind in seinen Armen und flüsterte beruhigende Worte, bis das Schluchzen allmählich nachließ und sie sich haltsuchend an ihn schmiegte, um für einen Moment die Augen vor der grausamen Realität zu verschließen. Als sie sie wieder öffnete, standen beide in Estelles Suite. Draußen färbte die Morgenröte bereits rosa Streifen in den Himmel. Julen zog die Gardinen zu, dann drehte er sich zu ihr um. »Es war eine lange Nacht, ruh dich aus.«
    »Aber wir wollten in die Bibliothek gehen!«
    »Das werden wir auch, sobald ich zurück bin.«
    »Wohin gehst du?« Dafür, dass sie sich eben noch nichts mehr gewünscht hatte, als von seiner Gegenwart befreit zu werden, klang ihre Stimme verdächtig unsicher in ihren eigenen Ohren.
    Er lächelte. »Ich versuche herauszufinden, was hinter dem Überfall steckt und bis dahin bist du hier am sichersten. Versprich mir, dass du nichts auf eigene Faust unternimmst.« Er legte seinen Finger unter ihr Kinn und küsste sanft ihre geschlossenen Lippen, dann war er fort.
     
    Urian wandte sich ab. Sein Lächeln hätte selbst einem ausgekochten Dämon Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Und »gekocht« durfte man in diesem Zusammenhang ruhig wörtlich nehmen. »Ihr könnt versuchen, meine Existenz zu ignorieren, wie ihr wollt – es wird schon bald euer Niedergang sein!«, flüsterte er und umhüllte sich mit Dunkelheit, bis diese ihn verschluckte.
     
     
    X
     
    Als Estelle am frühen Nachmittag die Decke beiseite schlug und aus ihrem kuscheligen Bett stieg, glaubte sie im ersten Moment, die Ereignisse der letzten Nacht nur geträumt zu haben. Aber dann sah sie das Blut auf ihrer Bluse – Julens Blut. Es war also kein Traum gewesen, den man, sobald man erwacht war, abstreifen konnte wie ein hässliches Kleid. Der Überfall hatte wirklich stattgefunden und, was sie noch schlimmer fand, Julen hatte wie selbstverständlich und ohne sichtbare Anstrengung zwei Vampire getötet, als wäre dies sein tägliches Geschäft. Woran sie sich ebenfalls erinnerte, war seine Anordnung, das Hotel keinesfalls ohne ihn zu verlassen. Sie hatte nicht vor, sich daran zu halten. Nach einem leichten Imbiss im Restaurant reihte sie sich in die Reihe der Wartenden ein, die gegenüber auf dem College-Gelände standen, um das »Book of Kells« mit seinen keltisch beeinflussten Tier- und Menschenfiguren sowie die mit Ornamenten und Zierbuchstaben reich geschmückten lateinischen Evangelien in der Bibliothek des Trinity College anzusehen. Die Sonne schien, die Wartenden kauften Punsch oder heiße Waffeln, und Estelle genoss die

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