Die Sternseherin
Racheengel über dem Vampir. »Fahr zur Hölle!« Mit diesen Worten schlug er ihm in einer einzigen fließenden Drehung den Kopf ab. Kaum berührten seine Füße wieder den Boden, versteifte er sich, als wusste er, dass Estelle ihn aus ihrem Versteck heraus beobachtet hatte. Diesen Moment nutzte der andere Angreifer. Eben noch am Boden sprang er mit einem wütenden Schrei auf und schlug seine Zähne in Julens Arm. Gereizt packte der den Kopf des Jungen und schleuderte ihn weit von sich. Die gegenüberliegende Hauswand bremste seinen Flug und der schlaffe Körper glitt langsam herab. Mit wenigen Schritten war Julen bei ihm und brüllte: »Steh auf, bevor ich dich an den Eiern hochziehe!« Als der Vampir nicht reagierte, packte er kurzerhand seinen Hals und drückte ihn an die Mauer. »Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht?«
Anstelle einer Antwort wehrte sich der Vampir mit Klauen und Zähnen.
»Wie du willst!« Julen wollte seinen Gefangenen gerade aus dem Lichtkegel der Straßenlaterne in eine versteckte Hofeinfahrt zerren, um ihn zum Reden zu bringen, als er in der Ferne Schritte hörte. »Verflucht!« Estelle, sie kam zurück! Für Fragen war jetzt keine Zeit mehr, blitzschnell brach er mit einem einzigen Griff das Genick des Jungen. Kaum mehr als ein Teenager war dieser bei seiner Transformation gewesen, und auch sein vampirisches Dasein hatte der arme Kerl nicht länger als ein oder zwei Jahre gefristet. Die Streuner mussten lebensmüde gewesen sein, sich mit jemandem wie ihm anzulegen. Doch für Mitleid war nicht der richtige Moment. Mit einem Messer, das er immer bei sich trug, schnitt er das Herz des Vampirs heraus. Es zuckte in Julens Hand, als versuche es, den immer noch kostbaren Lebenssaft durch die Adern seines Besitzers zu pumpen. Er zischte einen weiteren Fluch, als er hörte, wie die Schritte sich rasch näherten, schlug seine Zähne in den sterbenden Muskel und trank hastig das darin verbliebene Blut. Dann warf er das Organ aufs nächstgelegene Dach und den Leichnam gleich hinterher. Niemand von ihnen war tatsächlich unsterblich, und ohne Herz konnte der Körper sich nicht regenerieren, um vor dem neuen Tag in ein sicheres Versteck zu fliehen. Ein so junger und noch dazu geschaffener Vampir, das wusste Julen aus Erfahrung, würde schon bei der ersten Morgenröte zu Staub zerfallen. Normalerweise war er dennoch weniger nachlässig. Nach einem Kampf aufzuräumen stand ganz oben auf der Liste der Arbeitsregeln eines Vengadors. Doch jetzt hatte er andere Sorgen. Auf der Straße lag eine kopflose Leiche und unter normalen Umständen hätte er dem dritten Vampir folgen und ihn stellen müssen. Aber die Sicherheit der Fee hatte Vorrang. Deshalb vertraute er auf seine einzigartige Gabe und passierte blitzschnell und unbemerkt Estelle, die jetzt mit ängstlicher Stimme seinen Namen rief. Er griff nach Torso und Kopf und zerrte beides durch die Zwischenwelt den kurzen Weg hinauf auf das Flachdach, auf dem schon der andere Vampir lag. In dieser Situation wäre es praktisch gewesen, die nützliche Gabe seines Mentors zu besitzen. Kieran nämlich hätte die beiden mit einem beiläufigen Fingerschnipsen zu Staub zerfallen lassen können. Er kannte keinen anderen Vampir, der diese Fähigkeit besaß. Unglücklicherweise erinnerte ihn dieser Gedanke wieder an das Dilemma, dem er nun entgegensah. Wie erklärte er das Geschehen, ohne seine wahre Identität als Vengador preiszugeben? Hastig wischte er mit dem Ärmel über seinen Mund und hoffte, dass keine Blutspuren in seinem Gesicht zu finden waren. Wie viel hatte sie gesehen?
Als er hinter ihr auftauchte, stand sie mitten auf der Straße, zitterte unkontrolliert und rief schluchzend seinen Namen.
»Hier bin ich, mein Augenstern!«
Estelle fuhr herum. »Julen, Gott sei Dank, du lebst! Das waren Vampire!«
Mit einem müden Lächeln strich er ihr beruhigend über das Haar. Es hatte Kraft gekostet, die hässliche Szene vor den Augen sterblicher Passanten zu verbergen. Dass er die Fee nicht täuschen konnte, war zu erwarten gewesen, dennoch wollte Julen versuchen, sie soweit wie möglich zu beruhigen, und begann, zu einer harmlosen Erklärung anzusetzen, da wurden ihre Augen plötzlich ganz rund und sie sah sich gehetzt um. »Wo ist die Leiche?«
Statt einer Antwort lauschte er in die Nacht. Sie waren nicht allein. »Wir sind hier nicht sicher, ich erkläre dir alles später!« Und ehe sie etwas entgegnen konnte, war er gemeinsam mit ihr durch die
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