Die Sternseherin
Dunkelheit auch nach Jahrzehnten so gut wie keine Lichttoleranz und fielen mit jedem Sonnenaufgang in einen komatösen Zustand, aus dem sie erst zu Beginn der Dämmerung wieder erwachten. Dieser Schlaf mochte ein weiterer Grund für ihre relativ geringen Überlebenschancen sein. Einige erwiesen sich jedoch als widerstandsfähiger. Häufig waren es eiskalte Skrupellosigkeit oder Hass, was diese Kreaturen antrieben, und nicht wenige von ihnen fielen schließlich, niedergestreckt von der Hand eines Vengadors, weil sie gegen die Regeln der magischen Gemeinschaft verstoßen hatten.
Estelle bewegten ganz andere Dinge. Sollte sie es für den Anfang beim Küssen belassen oder konnte sie es wagen, Julen in ihr Zimmer einzuladen? So wie er sie auf der Tanzfläche geküsst hatte, war ziemlich klar, was dann geschehen würde. Er war ein toller Mann und zum Niederknien sexy. Allein seinen Körper neben sich zu wissen, löste eine Welle unterschiedlichster Gefühle in ihr aus, darunter auch die Neugier, wie es sein würde, wenn sie sich liebten und sie dabei nicht spürte, was er empfand. Er würde andere Wege finden müssen, sie von seiner Leidenschaft zu überzeugen. Eins nach dem anderen, dachte sie und beschloss, einfach abzuwarten und jeden Augenblick ihrer Dublinreise so zu genießen, wie er war.
Drei Jugendliche bogen um die Ecke und Estelle erstarrte. Ihnen waren schon zahlreiche Nachtschwärmer begegnet, die in Gruppen durch die Straßen zogen. Einige davon deutlich alkoholisiert. Aber auf diese hier traf das nicht zu. Ihr Anführer, ein Typ mit Baseballkappe auf dem rasierten Schädel und Schenkeln, die nach übertriebenem Training an Kraftmaschinen aussahen, verfügte über eine deutliche Aura, wie sie nur Kreaturen der Anderswelt besaßen, und er war eindeutig auf Krawall aus.
Julen war auf einmal sehr präsent und dies stellte sich keineswegs als eine angenehme Überraschung heraus. Er strahlte eine entschlossene Kälte aus, die ihr Angst machte. Unvermittelt war er stehen geblieben. Beide Beine fest auf dem Boden, den Körper angespannt wirkte ihr Begleiter wie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung.
Sie attackierten ohne Vorwarnung.
»Lauf!«, zischte Julen ihr zu und sie rannte los. Das hier war kein Spaß und im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester, die sich schon als Sterbliche bestens auf die Geheimnisse asiatischer Kampfkunst verstanden hatte, hätte sie selbst sich nicht besonders effektiv verteidigen können, schon gar nicht gegen – was auch immer das für Kreaturen waren, Sterbliche waren es jedenfalls nicht. Atemlos verlangsamte sie ihre Schritte. Julen stand ihnen ganz allein gegenüber! Wie wehrhaft war ein Elf? Sie machte umgehend kehrt, hielt sich im Schatten der Häuser verborgen und versuchte, ihre Umgebung zu erfühlen. Für einen Moment glaubte sie, eine vierte, fremde Präsenz zu spüren, aber das Gefühl verschwand sofort wieder und musste wohl eine Täuschung gewesen sein. Nein, hier war sie vorerst sicher, die drei Angreifer konzentrierten sich ganz auf den Kampf, wie ihr der vorsichtige Blick um eine Häuserecke verriet. So sehr sie sich auch fürchtete, sie konnte sich nicht abwenden. Einer der jungen Männer lag bereits am Boden, während sein Kumpan den Rückzug antrat. Und dann sah sie den dritten, er hatte zwar schon auf den ersten Blick etwas älter als seine Kameraden gewirkt, jetzt aber war er nicht mehr wiederzuerkennen. Nicht das Schwert, das im Licht der Straßenlaterne blitzte, nicht die Attacken, die er damit gegen Julen führte, etwas anderes ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: Seine Lippen waren verzogen wie bei einem wütenden Hund und von den langen Eckzähnen tropfte Geifer. Sie begann am ganzen Leib zu zittern, als die Erkenntnis wie ein Blitz einschlug. Julen wurde von einem Vampir bedroht und was noch viel unheimlicher war: Seiner entspannten Körperhaltung nach zu urteilen, schien ihn das überhaupt nicht zu beunruhigen.
Mit federnden Knien stand er da und erwartete den Angriff wie der Torero den Stier in dem sicheren Bewusstsein, die Bestie früher oder später zu besiegen. »Sag der Nacht ›Adieu‹, ich werde dich von deiner erbärmlichen Existenz befreien!« Seine Stimme klang eiskalt und ebenso unheilvoll wie die Waffe des Kontrahenten. Schneller als dieser reagieren konnte und so schnell, dass Estelle überhaupt nichts gesehen hatte, wechselte der tödliche Stahl den Besitzer. Julen erhob sich, das fremde Schwert in der Hand, wie ein strahlender
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