Die Sternseherin
nur noch wenige Millimeter von ihren Lippen entfernt. Er zögerte, als warte er auf eine Erlaubnis, sie küssen zu dürfen, doch Estelle wandte ihren Kopf zur Seite und trat einen Schritt zurück. Die Enttäuschung in seinem Gesicht war nahezu anrührend und sie selbst fühlte sich, als hätte sie soeben etwas sehr Wertvolles verloren, aber letztlich war er ein Vampir, Nachtelf, oder wie auch immer die Blutsauger sich nannten, und seine Ernährungsgewohnheiten waren nicht das Einzige, was sie ablehnte. »Warum hast du mir deine Herkunft verschwiegen, und was weißt du über mich?«
Asher seufzte innerlich. Bis zu seinem tölpelhaften Versuch, sie zu küssen, war alles gut gelaufen, und nun nahm sie wieder diese feindselige Haltung ein. Er verfluchte seine Ungeduld. Die Sehnsucht danach, sie unter seinen Berührungen lustvoll stöhnen zu hören, sie endlich wieder zu besitzen, brachte ihn noch um den Verstand. So fühlte es sich also an, wenn man in die Fänge einer sinnlichen Feentochter geriet. Die mühsam angeeignete Selbstdisziplin schwand dahin und die Hormone begannen verrückt zu spielen. Ashers Verständnis für die zuweilen merkwürdigen Launen seines Bruders wuchs. Ahnte dieses begehrenswerte Geschöpf eigentlich, wie schwer es ihm fiel, nicht hier und jetzt fortzuführen, was in der Bibliothek zwischen ihnen begonnen hatte? Natürlich nicht, er selbst hatte sie ja mit einem Vergessenszauber belegt. Es war nicht einfach nur unfair gewesen, ihr die Erinnerung an ihre Begegnung in der Bibliothek zu nehmen, es war vor allem ein Fehler, den er längst bereute. Sie wären jetzt schon ein ganzes Stück weiter, wüsste sie, was zwischen ihnen passiert war. Asher zuckte mit den Schultern, als ließe sich sein schlechtes Gewissen so abschütteln. Womöglich war es besser, dass sie keine Ahnung hatte, eine weitere Enthüllung schien im Moment jedenfalls nicht angebracht. Bedauernd schob er die Erinnerung an ihre leidenschaftliche Reaktion auf seine Berührungen beiseite und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Bitte setz dich.« Er wartete, bis sie saß, und zog sich dann einen zweiten Stuhl herbei. Ruhig legte er seine Hände vor sich auf den Tisch. Kräftige Hände mit geraden Fingern und wohlgeformten Nägeln. Wenn Estelle ihre Augen schloss, dachte sie, würden diese Hände ihre Schenkel streicheln und dabei behutsam auseinanderdrücken. Sie würden ihre Taille umfassen und ... Sie riss die Augen auf, schluckte und räusperte sich. Wenn sie nicht bald etwas gegen diese Fantasien unternahm, fiel sie demnächst den erstbesten Mann an, der ihr über den Weg lief. Was war nur mit ihr los?
Asher nahm ihre Gedanken so deutlich wahr, als habe sie diese laut ausgesprochen. Er unterdrückte den Impuls, ihr hier und jetzt jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Endlich hob er seinen Kopf und sah sie ernst an. »Du weißt, dass deine Schwester heute in einem kalten Grab läge, hätte Kieran sie nicht gerettet?«
Nein, das wusste sie nicht. Sie war zu schockiert gewesen, ihre Schwester als Vampir wiederzusehen, um zu fragen, wie es eigentlich dazu gekommen war. Später hatte sich keine Gelegenheit mehr dazu ergeben. Estelle schüttelte stumm den Kopf und Asher genoss nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Gemeinsam mit deiner Zwillingsschwester ist sie eines Abends auf dem Heimweg überfallen und durch einen Messerstich tödlich verletzt worden. Hat dir niemand erzählt, wie sehr sie anfangs mit ihrem Schicksal gehadert hat?
Ich weiß, du magst Kieran nicht, und es stimmt, er hat viele raue Kanten und Ecken, er ist arrogant, verschlossen und äußerst gefährlich, wenn er gereizt wird. Im Grunde genommen könnte ich genauso gut mit einem Skorpion befreundet sein. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich ihn zum ersten Mal lachen hörte, aber seit Nuriya ihm ihr warmes Licht schenkt, ist er anders.«
»Ich habe nichts davon gewusst!« Estelle sah ihn mit großen Augen an.
»Das dachte ich mir. Was ich aber nicht verstehe, ist, warum du eine solche Angst vor uns hast.«
»Ich habe keine Angst!«, widersprach sie vehement. »Ich hasse ...« Estelle verstummte.
»Du hasst Vampire. Aber warum?«
Eine Träne lief über ihre Wange. »Es ist die Dunkelheit, die sie umgibt«, gab sie schließlich zu.
Asher kam es vor, als verschweige sie ihm etwas Wichtiges, doch vorerst wollte er die Sache auf sich beruhen lassen. »Fürchtest du dich auch noch vor mir, nachdem du in meine Seele geschaut hast?«
»Vor dir hatte ich noch nie Angst!«,
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