Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
herunterzuspülen. Oder ob er zuerst die Tabletten mit dem Mörser, der als Erinnerung an seine Großeltern in der Küche steht, zerdrücken, das Pulver in einen halben Liter Wodka schütten, umrühren und in einem einzigen Zug austrinken soll. Auf ex. Danach wird er sich aufs Bett fallen lassen, die Augen schließen, einschlafen und nie wieder aufwachen.
Ebenfalls muss er noch klären, wo er den Abschiedsbrief hinlegen will. Er muss gut zu sehen sein, auf keinen Fall darf der Brief verloren gehen. Über all das muss Vladimír nachdenken. Er hat aber noch genug Zeit.
Vorher möchte er noch rausgehen, einen letzten Versuch unternehmen, die Stadt und ihre Bewohner aus der Lethargie aufzurütteln. Ihnen aus dem Lärm heraus in die Stille zu verhelfen.
Jetzt steht er im Flur und lugt in das Zimmer seiner Frau. Das Bett ist gemacht. Über die Rückenlehne des Schreibtischstuhls hängt ihr brauner Pullover, den sie beim kleinsten Zugwind überwirft. Vladimír liebkost ihn mit der Hand. Der Pullover duftet nach ihrem Rosenparfüm. Er duftet nach dem Rest des Sommers.
FRAUEN, FLUPPEN UND SONGS
P etr sieht Madrid vom Himmel fallen. Dann Frankfurt. Oslo. Und Brüssel. Je näher er sich an die Anhöhe vom Weißen Berg vorarbeitet, desto mehr Flugzeuge mit ausgefahrenen Krallen sausen über Petrs Kopf auf den Flughafen von Ruzyně zu. Diesen Teil der Strecke mag Petr am liebsten.
Einmal hat ihn sein ehemaliger Kommilitone Dan zu einer Flugzeugjagd mitgenommen. Sie lagen in der Nähe der Landebahn im Gras, kifften und sahen zu, wie Flugzeuge mit unerträglichem Lärm auf ihren Köpfen zu landen versuchten. Beide hatten anfangs Ohrenstöpsel, nach dem zweiten Joint nahmen sie sie aber heraus. Sie redeten über Frauen und aalten sich im Lärm.
Dan hat immer Pilot werden wollen, dafür aber zu viel und zu häufig gekifft. Jetzt arbeitet er in einer Computerfirma in München. Petr hat auch immer etwas werden wollen, aber anders als Dan hat er nie genau gewusst, was das sein sollte. Vielleicht fährt er deswegen nun Straßenbahn.
Er passiert die Kreuzung Na Vypichu und nähert sich dem Weißen Berg. Er sitzt am Steuer der Straßenbahn Nr. 22, Linie Bahnhof Hostivař – Bílá Hora, Weißer Berg. Viermal am Tag hin, viermal zurück. Malmö stützt sich mit den Vorderpfoten auf dem Armaturenbrett ab und wedelt mit dem Schwanz.
»Ruhig bleiben, Süße, wir sind gleich da«, Petr krault sie hinter den Ohren.
Bald wird Petr an der Endhaltestelle ankommen und seine rote Straßenbahn zum Stehen bringen, Malmö wird hinausrennen und hinter dem letzten Waggon Gassi machen. Dann wird es zwanzig Minuten Pause für eine Zigarette, ein Butterbrot und einen Kaffee aus dem Automaten geben. Es dauert aber noch ein Weilchen, bis sie da sind. In der Fahrerkabine dröhnt New Order :
My morning sun is the drug
That brings me near
To the childhood
I lost replaced by fear
Man hat Petr deswegen schon mit Kündigung gedroht. Während der Fahrt dürfe keine Musik gehört werden, der Fahrer habe weder zu rauchen noch zu telefonieren, die Kabinentür sei geschlossen zu halten und Gespräche mit Frauen während der Fahrt seien untersagt, hat man ihm gesagt. Petr schert sich keinen Deut darum. Er ist ohnehin lediglich als Aushilfe angestellt, auch wenn er schon über ein Jahr lang fährt. Der Verkehrsverband ist auf Aushilfen angewiesen, es gibt nie genug Straßenbahnfahrer. Die Arbeit lässt sich auch nicht lange aushalten. Es sei denn, man ist vernarrt in Straßenbahnen, so wie der Kollege Hrouda.
Ohne Musik könnte er den Job nicht machen. Ohne Musik, ohne Zigaretten – und ohne Malmö. Und ohne Frauen, die er mit seiner Straßenbahn durch die Stadt fährt und die ihm nicht aus dem Kopf wollen. Zum Beispiel diese hübsche kleine Rumänin, die bei der nächsten Runde im Stadtzentrum einsteigen wird. Sie schleicht sich an deutsche Touristen heran, guckt den Frauen in die Handtasche, streichelt den Männern über die hintere Hosentasche. Holt Geldbörsen, Handys und Kreditkarten heraus. Und Petr sagt dann auf Tschechisch und auf Englisch ins Mikrofon: »Bitte achten Sie auf Ihre persönlichen Wertsachen«, obwohl er weiß, dass dieser Satz nur ein Alibi ist, dass sich die kleine dunkelhäutige Rumänin in kurzer schwarzer Leggins, Turnschuhen und rotem T-Shirt davon nicht wird abhalten lassen und dass die Touristen mit ihren Sonnenbrillen ihre Sachen sowieso nicht im Auge behalten.
Petr freut sich schon auf das kleine Langfingerkonzert zu zwei
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