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Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu

Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu

Titel: Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaroslav Rudis
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Händen. In der proppenvollen Zweiundzwanzig. Die Taschendiebstähle werden ihn einerseits ärgern, andererseits aber auch irgendwie erregen.
    Jetzt fährt er allein. Es sind keine Fahrgäste da. Die Straßenbahn ist leer und schaukelt, als wäre sie ein Schiff und die Gleise Meereswellen.
    Petr fährt auf die Endhaltestelle zu. Bis jetzt ist es ein guter Tag, denkt er. Bis jetzt ist er noch keinem vor der Nase weggefahren, wie er das an Scheißtagen immer tut.

ÜBER DEN WOLKEN
    D as Flugzeug fliegt nicht, sondern schwebt in der Luft, zumindest kommt es Hana so vor. Als würden die Wolken unter ihnen fliegen. Vielleicht ist es auch so. Stürzte das Flugzeug in diesem Moment ab und sie müsste sterben, würde es ihr nichts ausmachen. Es wäre passend, praktisch, perfekt.
    Als Kind hat sie sich immer wieder ihren Tod vorgestellt, die Beerdigung und die Musik, die dabei gespielt werden würde – natürlich von ihr selbst zusammengestellt. Ihre Großeltern sind beide zu Hause gestorben, sie hat zugesehen, wie sie allmählich von der Welt Abschied nahmen, zusammengeschrumpft, mit eingefallenen Wangen und in sich gekehrt lagen sie kraftlos im Bett. Hana wünschte sich, mitten im Leben vom Tod dahingerafft zu werden, bei einem Sprint im Stadion, in voller Geschwindigkeit auf der Autobahn, im Flugzeug über den Alpen unterwegs nach Rom oder nach Barcelona. Sie hatte Angst davor, nicht mehr so beweglich zu sein. Nicht frei atmen zu können. Auf Hilfe anderer angewiesen zu sein. Diese Angst hat sie bis heute.
    Sie spürt, wie ihr der Sekt in den Kopf steigt. Sie schließt die Augen. Als sie aufwacht, läuft immer noch Musik in ihren Kopfhörern, und das kleine Flugzeug auf dem Bildschirm vor ihr bewegt sich auf der Europakarte irgendwo über der Schweiz. Noch eine Stunde und sie ist zu Hause.
    Hana beschließt, es ihm schon heute zu sagen. Schluss zu machen. Es war nett, aber es führte nirgendwohin. Vielleicht hat es von Anfang an nirgendwohin geführt. Sie hat ihn geliebt. Ganz doll. Sie hätte alles für ihn getan. In einem bestimmten Moment hätte sie sogar ihr Leben für ihn gegeben. Aber dieser Moment ist nun vorbei.
    Sie fühlt sich stark. Richtig stark. Wie mit sechzehn, als sie den 100-Meter-Sprint in der Kreisstadt gewonnen hat. Oder die Aufnahmeprüfung für die Uni bestanden hat. Als sie im Ministerium eingestellt wurde und das erste Mal mit einem Diplomatenpass ins Ausland reiste. Als sie den Mann kennengelernt hat, den sie heute verlassen wird.
    Sie wird nur noch das tun, was sie selber will. Sich eine kleine Wohnung nehmen. Ein Zimmer reicht. Ein Bett nur für sie allein. Vielleicht muss es nicht mal Prag sein. Sie reicht die Kündigung ein. Es ist egal, wovon sie leben wird. Auf den Diplomatenpass kann sie gut verzichten, für Auslandsreisen braucht man ohnehin nur noch den Personalausweis. Die Pumps landen im Schrank und sie zieht wieder ihre alten Adidas-Schuhe an. Kauft sich ein Fahrrad und wird nur in einem Spaghetti-Top herumfahren, ohne BH, wie damals in Berlin. Das ist noch gar nicht so lange her. Vier Jahre? Vielleicht sucht sie sich wieder einen Job als Kellnerin. Oder verschwindet nach Genf. Nach Kopenhagen. Oder nach Lissabon. Vor allem aber tut sie nur noch das, was sie will. Räumt nie wieder fremde Slips und Socken im Badezimmer weg. Das hat er bis heute nicht gelernt. Seine Mutter hat es ihm wohl nicht beigebracht.
    Mit Thomas wird es keine Fortsetzung geben, das ist klar. Das will sie auch nicht. Aber die Begegnung mit ihm hat etwas in ihr in Bewegung gesetzt. Etwas, das lange brachgelegen hat.
    La petite mort.
    Sie sieht zu, wie lächelnde portugiesische Stewardessen Getränke an Touristen verteilen, deren Nasen in Prag-Reiseführern stecken und die nur noch Kafka, Barockkirchen und U Fleků im Kopf haben. Wenn sie wüssten, wie leblos und ausgelaugt die Stadt geworden ist. Ein riesiges, schmuddeliges und muffig riechendes Museum. Ein Ort, den man für ein verlängertes Wochenende ansteuert, an dem man sich volllaufen lassen kann und den Rausch dann auf dem Rückflug ausschläft. Mehr ist in dieser Stadt nicht drin.
    Hana überlegt, wo sie es ihm am besten sagen soll. Zu Hause, in einem Restaurant, auf der Straße oder am Telefon. Vielleicht reicht eine SMS . Eine kurze Nachricht, höchstens fünf Worte lang. Fünf Jahre gemeinsames Leben, fünf Jahre Nähe binnen einer Sekunde auslöschen. Wie aufregend, denkt Hana, so schnell Schluss zu machen. Etwas zu beenden, das funktioniert hat, sich

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