Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
ladimír steht in der Straßenbahn. Er ist in Dejvice zugestiegen.
In diesem Viertel ist seine Frau aufgewachsen. Hier hat er sie immer abends von der Tanzschule, in der sie sich kennengelernt haben, nach Hause begleitet. Er mochte es gerne, wie sie tanzte. Die sanften Bewegungen ihrer langen Beine und schlanken Arme, das Wiegen ihrer Hüften. Eine stille Eleganz, die selbst dann nicht verloren ging, als sie von seinem Seitensprung erfuhr und ihn für einen Monat aus der gemeinsamen Wohnung verbannte. Sogar als das Leben ihren Körper verließ, behielt sie ihre Eleganz.
Vladimír begegnet ihr manchmal. Von Zeit zu Zeit huscht sie durch die Wohnung. Er sieht sie kurz in der Tür. In der Küche. Im Badezimmer. Gelegentlich sieht er sie auch auf der Straße. Und häufig hört er sie reden. Sie sagt ihm, was er tun und was er lassen, was er anziehen und was er lieber nicht tragen soll. Genauso wie sie es gemacht hat, als sie noch zusammen waren. Ist sie jetzt tot? Vladimír kann es nicht genau sagen. Aber ihm kommt es vor, als wäre sie ständig bei ihm. Er spürt sie. Er hört sie. Sie hat sich in seinem Kopf eingenistet.
Jetzt ist sie aber nicht da. Vladimír steht in einer Straßenbahn, die schaukelnd die Pulverbrücke hinauffährt.
Er hält sich an der Stange bei der Tür fest. Seine Finger, die in der Manteltasche stecken, umklammern eine kleine scharfe Schere. Zwei Meter vor ihm steht eine etwa dreißigjährige attraktive Frau mit Koffer und Handtasche. Bestimmt kommt sie vom Flughafen. Sie sieht etwas müde aus, starrt aus dem Fenster und summt vor sich hin. Aus der Tasche ihres gestreiften Jacketts läuft ein dünnes weißes Kabel. Unter ihrem Hals teilt es sich und seine beiden Enden verschwinden in den Ohren der Frau.
Vladimír überlegt, welche Musik wohl in ihren Kopf hineinströmt und was sie in ihr hervorrufen mag. Hört sie Disco, Rock, Folk oder Klassik? Weckt die Musik Freude, Trauer oder Nostalgie in ihr? Sie scheint eine gestandene Frau zu sein, gleichzeitig wirkt sie aber auch mädchenhaft verträumt. Für Disco zu alt, für Klassik zu jung, für Folk zu elegant. Also wird es wohl Rock sein. Sie versucht damit etwas längst Vergangenes in ihr Leben zurückzurufen, vermutet Vladimír.
Er hört angestrengt zu, aber die Kopfhörer lassen nicht mehr als ein schwaches Echo in die Straßenbahn hinein, nur Fetzen des Songs, ein paar hohe Töne und eine Andeutung von Rhythmus. Die Frau hat die Lautstärke nicht ganz aufgedreht, vielleicht ist sie noch nicht verloren, vielleicht wird sie sich noch finden.
Er schiebt sich langsam an den anderen Fahrgästen vorbei. Seine Finger schwitzen. Wie jedes Mal. Er stellt sich ganz dicht neben sie. Sie duftet nach Rosen. Sehr sexy. Vladimír mag den Duft von Blumen, am meisten den von Rosen, er erinnert ihn an seine Ehe. Als seine Frau im Sterben lag, hat er ihr jeden Tag frische Rosen auf den Tisch gestellt.
Jetzt ist er fast auf Tuchfühlung mit der Frau. Er könnte sie berühren, sie nimmt ihn aber nicht wahr. Er zieht die Schere aus der Tasche und schließt für eine Sekunde die Augen. Noch einmal atmet er ihren Duft ein. Noch näher darf er ihr nicht kommen. Sie ist schön. Betörend. Er hebt die Schere. Nicht einmal einen Sekundenbruchteil später hat er das Kabel an zwei Stellen durchtrennt.
Das lose Stück steckt er in seine Manteltasche. Dann dreht er sich schnell um und schlüpft zwischen zwei Frauen hindurch zur Tür, wo er sich an die Stange klammert und so tut, als studiere er eingehend das Verzeichnis der Haltestellen oder das Theaterprogramm, das über dem Fenster hängt. Das Kabel wird er mit nach Hause nehmen, genauso wie ihren Duft.
Er hat keinem wehgetan. Er wurde von keinem beobachtet. Keiner hat etwas mitbekommen. Das alles kommt erst später.
SCHNELLER ALS SONST
B ei Vater dauert es nie lange.
Vanda steht auf der Straße und lehnt an einer Hauswand. Der blaue BMW ihres Vaters schießt aus dem unterirdischen Parkhaus. Sie sieht das verängstigte Gesicht seiner Neuen. Das Gesicht ihrer einstigen besten Freundin. Lucie wendet sich Vanda zu und versucht zu lächeln.
Die kann mich mal.
Kennengelernt haben sich Vater und sie durch Vanda. Sie hat ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert und ein paar Leute eingeladen. Zu sich nach Hause. Lucie war auch dabei.
Sie waren nicht gleich zusammengekommen. Erst vor einem Monat etwa. Da hat Lucie ihr erzählt, wie toll sie ihren Vater findet und dass sie schon immer auf ältere Typen gestanden hat.
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