Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
Vanda wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Seitdem reden sie nicht mehr miteinander.
Vater ist mit allem ratzfatz fertig.
Ihre Gespräche haben nie länger als eine halbe Stunde gedauert. Höchstens zu Weihnachten, da ist regelmäßig etwas in ihm weich geworden. Heiligabend sangen sie gemeinsam Weihnachtslieder und feierten nach alter Tradition, machten jedes Mal Bleigießen und schnitten Äpfel auf, um nach Sternchen oder Kreuzen im Kerngehäuse zu suchen. Als kleines Mädchen saß Vanda immer bei ihrem Vater auf dem Schoß. Er zog sie an den Haaren. Sie ihn an den Ohren. Und sie roch an seinem Hals.
Vielleicht sind das die schönsten Momente ihres Lebens gewesen. Noch heute, wenn die Erinnerung sie überkommt, fühlt sie genau, wie schön es damals war. Trauer überwältigt sie. Gott, wie peinlich. Fuck off. Auch er kann sie mal …
Am nächsten Tag war die Familienharmonie allerdings wieder vorbei. Das Leben kehrte in seine alten Bahnen zurück. Vater klappte sein Notebook auf und stellte sein Handy an. Nachmittags fuhr er meistens in die Stadt zu einem Termin. Mutter und Vanda ließen sich vor die Glotze fallen. Zum wiederholten Mal sahen sie sich Märchen an, die sie schon auswendig kannten. Dabei dösten sie immer wieder ein. Ihre Köpfe berührten sich leicht und Vanda kam es vor, als verschmelze sie mit ihrer Mutter. Vater kam meist gut gelaunt aus der Stadt zurück und brachte ihnen Speiseeis von der Tankstelle mit. Danach bereitete Mutter das Abendessen zu.
Die Treffen mit ihrem Vater dauerten nie lang, aber diesmal war es noch schneller gegangen als sonst. Vanda und er hatten sich mittags direkt neben seinem Büro in einem Thai-Restaurant getroffen.
Sie bestellte eine Cola mit Eis und Mangomilchreis. Die Hälfte ließ sie stehen. Vater bestellte sich ein alkoholfreies Bier, Lachssuppe und Bratnudeln mit Gemüse.
»Schmeckt’s?«
»Zu süß.«
»Meins ist zu scharf. Vielleicht könnten wir es zusammen mischen.«
Sie hasste es, wenn er versuchte witzig zu sein.
»Heute hab ich ein Konzert. Das wird auch scharf.«
»Wie scharf?«
»Richtig scharf.«
»Aha. Wie heißt eure Band?«
»Meine Band. Das hab ich dir bestimmt schon tausendmal gesagt.«
»Ich weiß.«
Sie krempelte den Ärmel hoch und zeigte ihm ihre Schulter: »Kill the Barbie.«
»Das heißt …?«
»Töte die Barbie.«
»Ich kann Englisch. Ich meinte, was das soll. Die Tätowierung.«
»Alles.«
»Wie alles?«
»Das bin ich.«
»Das gerötete Etwas auf deiner Schulter sollst du sein?«
»Lass mich in Ruhe. Das verstehst du sowieso nie.«
»Ich versuche es zu verstehen. Aber du willst nicht mal versuchen, es mir zu erklären.«
»Wahrscheinlich versuchen wir es halt jeder anders.«
»Eigentlich ist es hübsch. Romantisch. Ich hätte so was nie fertiggebracht. Du nimmst mir nicht übel, wenn ich heute Abend nicht komme, oder? Ich habe viel zu tun.«
»Nein.«
Ehrlich gesagt hat sie auch nichts anderes erwartet. Erleichterung machte sich breit in ihr. Vor dem eigenen Vater auftreten? Er würde bestimmt dieses schauderhafte Jackett anbehalten. Man würde ihm dort nur seine teure Brille von der Nase hauen. Dort gehen andere Leute hin.
»Wie geht es Mama?«
Vanda zuckte mit den Schultern.
»Geht sie zu ihrer Therapeutin?«
»Das schon …«
»Also geht es ihr etwas besser?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Rede doch mit ihr.«
»Ich?«
»Wenn ich anrufe, geht sie nicht ran.«
»Wundert mich nicht.«
»Vanda … Meinst du, dass ich das toll finde?«
»Keine Ahnung, wie du was findest. Aber dir geht es offensichtlich besser als ihr.«
»Meinst du, dass mir das Ganze leichtfällt?«
»Null Ahnung, echt … Was soll ich sagen.«
Vanda blickte aus dem Fenster. Mit ihrer ganzen Kraft versuchte sie einen Tränenausbruch zu verhindern.
»Mit deiner Mutter ist es nie einfach gewesen. Lebt man zu lange mit jemandem zusammen, dann kann es eines Tages vorbei sein. Bei einer Trennung trägt nie nur einer die Schuld. Du bist ein großes Mädchen, du wirst damit schon fertig.«
»Magst du sie nicht mehr?«
»Schon. Aber …«
»Aber?«
»Es ging so einfach nicht weiter. Du kannst unmöglich mit jemandem leben, mit dem es keine Perspektive mehr gibt. Mit dem du dir nichts mehr zu sagen hast. Mit dem du mehr schweigst als redest … Wie läuft’s in der Schule?«
Eine blödere Frage hätte ihm wirklich nicht einfallen können.
»Geht so.«
»Mathe?«
»Gut.«
»Also hat die Nachhilfe was
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