Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
dieses Gefühl immer häufiger auf. Bis auf sein Bett, einen Schrank und einen Nachttisch ist das Zimmer leer. Am Fenster ein Rollo, daneben Vorhänge, die Wände kahl. In der Mitte er. Das war’s.
Sein Blick wandert eine Weile über die weißen Wände, während er angestrengt horcht, ob etwas von der Außenwelt durchsickert. Er weiß, dass sich der Schall nicht nur durch die Luft verbreitet, dass der Straßenlärm nicht nur durch die sorgfältig abgedichteten Fenster in die Wohnung eindringt. Er weiß, dass Geräusche und Lärm durch jedes, wirklich jedes Material geleitet werden, er weiß, wie schwer es ist, sich dem erfolgreich zu entziehen, der Schall strömt durch Ziegelsteine, durch Kabel und durch Ritzen im Gemäuer herein, er wird durch Wasser- und Gasleitungen und durch die Abflussrohre getragen. Vladimír lauscht, Vladimír inspiziert jede Ecke. Aber er hört nichts.
Das beruhigt ihn. Er hört nur seinen Herzschlag und seinen Atem, und das ist gut, auch wenn ihm sein Herz jeden Tag etwas leiser und langsamer erscheint, als bliebe sein Körper tagtäglich um ein paar unmerkliche Tempi zurück, als hinke er um ein paar Atemzüge hinterher. Sein Herz schläft langsam ein, zumindest kommt es Vladimír so vor. Vielleicht soll es so sein. Bald ist der ewige Schlaf dran. So hat es zu geschehen und so wünscht sich Vladimír das auch.
Er ist immer noch nackt. Er geht ins Wohnzimmer, das er zu seinem Labor umgebaut hat, zur Werkstatt seiner Befreiung, zu einer Fabrik für die Befreiung der Stadt, des Landes und des gesamten Universums.
Er lauscht, aber auch hier herrscht Stille. Das ist gut so, denn alles andere würde ihn ganz durcheinanderbringen.
Es gibt nur wenige Orte, an denen er in Prag dem Lärm entfliehen kann, und einer davon ist seine Wohnung. Sie ist eine schalldichte Festung, trotz mancher poröser Stellen. Ohne sie wäre er längst tot.
Den Tisch mit der Technik streift er nur kurz mit dem Blick und geht dann direkt zu dem alten Schreibtisch in der Ecke. Unter der Glasplatte schmiegen sich alte Urlaubskarten aneinander, ein paar Fahrkarten, Vignetten von Weinflaschen, vergilbte Familienfotos. Alles so alt, dass sich das Papier an der frischen Luft sofort wellen und zerfallen würde.
Vladimír sieht sich das Foto von seinen Eltern auf Langlaufskiern an. Sein Vater lächelt ins Objektiv, genauso Vladimírs Mutter mit einer komischen Zipfelmütze auf dem Kopf. Beide lächeln, als sollte dieser Tag im Riesengebirge nie aufhören, als sollte ihr Leben, das inzwischen längst ein Ende gefunden hat, ewig weitergehen, als sollten statt dieses einen Fotos gleich Tausende weiterer Bilder vom winterlichen Familienglück geschossen werden.
Mutter hat einen Handschuh ausgezogen und drückt einen pausbäckigen Jungen auf kurzen Skiern an sich. Vladimír mustert sich. Er weiß, dass er das sein muss, erkennt sich aber nicht wieder. Er kann sich nicht erinnern, wann das Foto entstanden ist, er weiß nicht mehr, wo es gemacht wurde, ihm ist lediglich im Gedächtnis geblieben, dass es danach auf der Hütte Abendessen gab, Schnitzel mit Kartoffelpüree, vorweg eine Rindsbouillon und als Nachtisch Pfirsichkompott.
Wenn Vladimír auf sein Leben zurückblickt, kann er sich in erster Linie an die Speisen erinnern, die gegessen wurden oder gegessen werden sollten. Jetzt ist ihm das Essen nicht mehr so wichtig. Er braucht es kaum noch.
Vladimír denkt gerne an die schweigsamen Mahlzeiten zu Hause, an jene ausgedehnten Konzerte der Stille, in denen lediglich das Besteck klapperte und ab und zu auf dem Porzellan kratzte, untermalt vom Quietschen der Stühle. Vater wünschte nicht, dass beim Essen gesprochen wurde. Vielleicht hat Vladimír es dort gelernt. Vielleicht hat es genau da angefangen. Seine Unlust zu sprechen. Sein Bedürfnis nach Stille.
Wer von den Eltern mag wohl die Fotos unter das Glas geschoben haben? Vermutlich Vater, denn er liebte es, Obst und Erinnerungen konserviert zu sehen. Er zwang die Mutter, alles einzumachen, was sich einmachen ließ, die Wohnung duftete wochenlang entweder nach Aprikosen, Kirschen und Pfirsichen oder sie roch nach Essig und Gurken. Auf Vaters Geheiß bewahrte Mutter Fahrkarten und Reiseprospekte in Keksdosen auf und klebte Fotos in Alben ein. Die Dosen und die Fotoalben stehen heute neben zwanzig Jahre alten Gläsern mit Essiggurken auf dem Kellerregal. Vladimír weiß das. Er ist vor einem Jahr im Keller gewesen. Konservierte Erinnerungen oder eingemachtes Gemüse. Was
Weitere Kostenlose Bücher