Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
Spitze sich in den Himmel hineinbohrt. Die schwarzen Babys turnen auf ihm herum. Nie fallen sie herunter, nie werden sie groß. Er hebt das schwere Glas hoch. Nimmt einen Schluck, bewegt den Cocktail im Mund hin und her, will ihn herunterschlucken, schafft es aber nicht. Etwas in ihm zieht sich zusammen. Etwas hält den milchigen Tablettensud zurück. Etwas macht die Ecken und Kanten der Tabletten wieder scharf und groß. Ihre aufgelösten und verlassenen Leben melden sich zurück.
Vladimírs Leben meldet sich zurück.
Er kann nicht einfach aufhören.
Er wird bleiben müssen.
Er kann nicht weggehen.
Er schafft es nicht, sich selbst gehen zu lassen.
Vladimír öffnet das Fenster und spuckt alles hinaus. Dann kippt er das Glas aus. Er hört die Flüssigkeit auf den Gehsteig schwappen. Es klatscht, dann ist es still. Eine Weile horcht er, dann schmeißt er das Glas im hohen Bogen hinterher. Die Scherben zerbersten. Vladimír schließt das Fenster.
Er muss bleiben.
Und resignieren.
Warten.
Sich ergeben.
Kapitulieren.
Zuhören, wie der große Brand näher kommt. Ihn erleben. Erst dann wird er gehen dürfen.
Er setzt sich auf den Fußboden. Lehnt sich gegen die Wand, blickt aus dem Fenster in den Himmel, beobachtet die weißen schwarzbäuchigen Wolken und den blauen Horizont, der sich unter ihnen wölbt, er hört sein Herz schlagen, hört sich selbst atmen, hört erneut die Symphonie seines Körpers, sie ist so laut, wie seit Jahren nicht mehr. In Vladimírs Nase dringt der Geruch von Rosen.
Im Flur hört er seine Frau.
PRAG – MALMÖ – LISSABON
R ückblickend weiß er ganz genau, wann es mit Klára zu Ende war. Ein Stück vor Tours hielten sie an einer Tankstelle. Beim Bezahlen kaufte Petr Vanilleeis. Klára stand gegen das Auto gelehnt und schrieb eine SMS . Sie trug eine Sonnenbrille, man konnte aber trotzdem ihre Augen sehen. Sie wirkten traurig und ein wenig überrascht. Sie lächelte Petr an, aber das Lächeln wollte ihr nicht so recht gelingen.
Genau in dem Moment, an jenem heißen Mittag unter der flachen Überdachung einer Tankstelle mit weißer Muschel als Logo ging etwas zwischen ihnen in die Brüche. Petr kam auf den Wagen zu, aus den Lautsprechern donnerte französischer Hip Hop, das aufgeweichte Vanilleeis floss seine Hand herunter und tropfte auf den Boden. Das Eis klebte ihm an den Fingern. Er musste sich die Hände waschen.
Tours. Poitiers. Saintes.
In Bordeaux redeten sie noch miteinander, wurden aber immer schweigsamer. Von Kilometer zu Kilometer, von Geschichte zur Geschichte, von Satz zum Satz wurde ihre Kommunikation sparsamer. Schließlich rangen sie nur noch um einzelne Worte. Aber die Musik lief noch und die Zigaretten waren noch nicht alle.
New Order.
Zwischen San Sebastian und Bilbao trudelten SMS in Hülle und Fülle ein. Zunächst fiel es ihm gar nicht auf. Er wollte es auch nicht wahrhaben. Sie sagte, ihre Mama mache sich Sorgen, wo sie sei. Dann redete sie sich mit einer Freundin heraus. Dann mit einer anderen, die sich soeben von ihrem Freund getrennt habe und Beistand brauche.
Zuerst wandte sie ihren Blick ab, später wandte auch er seinen Blick ab.
Vor Madrid sagten sie beide kein Wort mehr. Klára war geradezu auf ihr Handy fixiert. Bei der Autobahnausfahrt piepte es wieder. Petr bremste nicht rechtzeitig ab und fuhr dem vorausfahrenden Wagen gegen die Stoßstange. Es war nichts Ernstes. Der Fahrer wollte nicht einmal die Polizei rufen. Er wollte auch kein Geld haben. Vielleicht waren sie die ersten Tschechen, die er je gesehen hatte.
Eigentlich war nichts passiert. Aber irgendwie doch. Klára raffte ein paar Sachen zusammen und bat den Mann, sie nach Madrid mitzunehmen.
Er sah sie etwas überrascht an und sagte dann: »No problem.«
Klára stieg bei ihm ein.
Petr stand auf der Autobahn. Es war heiß, die am Asphalt klebende Luft bewegte sich keinen Millimeter. Der Himmel war von sattem Blau, keine Spur einer Wolke, die das Blau vielleicht weniger blau machen, diese unglaubliche Ruhe stören könnte. Der Wagen fuhr los und hielt sofort wieder an.
Klára stieg aus.
Sie umarmte ihn.
»Sei mir nicht böse. Ich kann nicht mehr.«
Petr schob sie von sich.
Sie standen einen halben Meter voneinander entfernt.
Klára nahm ihre Brille ab.
Sie sahen sich in die Augen. Eine Minute lang.
»Machst du das immer so?«
»Danke, dass du mir geholfen hast.«
»Ist das alles, was du zu sagen hast?«
»Vorher hätte ich es nicht sagen können, weil ich es nicht
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