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Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu

Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu

Titel: Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaroslav Rudis
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hineingeschaufelt.
    Auch heute noch geht Vladimír manchmal hin. Hotdogs isst er nicht mehr, aber er sitzt auf der Terrasse über der Moldau und sieht auf die wogende Stadt unter ihm, auf die glänzenden Dächer, die unter den Sonnenstrahlen erglühen, auf die Wolken am Horizont, die vom Westen in den Osten ziehen, auf die Autos, die in den Tunnel unter der Letná hindurch wie in einem Darmtrakt verschwinden, der sie unverdaut und leicht vergiftet ein paar Hundert Meter weiter auf der anderen Seite wieder ausspuckt. Er sieht auf die Schiffe herunter, die planlos über die schmale und seichte Moldau kreuzen.
    Vladimír gefällt es dort. Er gehört dahin. Geboren wurde er in einen großen Lärm hinein. 1962. Genau an jenem Oktobertag, als auf der Letná zum ersten Mal versucht wurde, mit Dynamit das riesige Figurenensemble mit Stalin und der Arbeiterklasse in die Luft zu sprengen. Im Volksmund wurde das Werk Anstehen beim Fleischer genannt. Der steinerne Gigant widersetzte sich aber der Zerstörungswut. Man brauchte mehrere Tage und anderthalb Tonnen Plastiksprengstoff.
    Vladimír hatte mehr Glück. Gleich beim ersten Versuch war er auf die Welt geschlüpft. Ohne Dynamit. Als die Geschichte in der Schule bekannt wurde, bescherte sie ihm auch gleich einen Spitznamen: Dynamit. Obwohl er sich nie, nicht einmal in seinen Träumen stark gefühlt hatte, blieb der Name bis zum Abschluss des Konservatoriums an ihm hängen. Dynamit, der mit einem feinen Stäbchen in der Hand einer Triangel zarte Töne entlockte, Dynamit, der mit Verve hinter seinem Schlagzeug wie hinter einer dröhnenden Festung saß, Dynamit, der eine elegante feingliedrige Frau liebte, die wunderschön tanzen konnte.
    Das alles ist längst vorbei. Nur noch seine Frau ist geblieben, sie sitzt ihm gegenüber, lehnt an der Wand und sieht ihn an.
    »Ich bin so froh, dass du nicht gegangen bist«, sagt sie. »Ich bin froh, dass du auf mich gewartet hast. Dass wir wieder zusammen sind.«
    Er will auch etwas sagen, aber er schafft es nicht. Sein Mund schluckt die halb ausgesprochenen Worte wieder herunter. Er verzieht seinen Mund. Bemüht sich um ein Lächeln.
    »Dein Lächeln hab ich schon immer so schön gefunden«, sagt sie.
    Auf einmal geht es doch. Vladimír überwindet die würgende Kraft, die seine Gedanken, Stimmbänder und Lippen an ihrer Bewegung hinderte, und Worte purzeln ohne Punkt und Komma aus seinem Mund heraus. Er erzählt von der Stadt. Vom Lärm. Von den brennenden Rändern Europas. Er berichtet seiner Frau von Menschen, die nichts von alledem hören wollen, weil sie nur noch für Lärm empfänglich sind. Er beschreibt die Maschine, mit der er den Lärm bekämpft, und die er selbst entwickelt hat. Er redet von den Kindern und von ihr, seiner Frau.
    Die Worte sprudeln aus Vladimír heraus, als hätten sie tief in ihm Winterschlaf gehalten und müssten jetzt dringend an die frische Luft, er erzählt und erzählt und sieht dabei in ihre blauen Augen, beobachtet ihre fein geschwungenen Lippen und den Zopf, der ihr über die Schulter fällt. Er gebe alles auf der Welt, wenn sie zu ihm zurückkehrte.
    »Ich brauche nicht zurückzukehren. Ich bin hier.«
    Sie steht auf und löst ihre Haare. Sie zieht ihr Kleid aus, er sieht ihre Brüste, ihren Bauch, ihren Schoß. Er schließt die Augen. Sein Atem geht schnell. Er berührt sie. Sie ihn. Er ist erregt. Sie fließen ineinander.
    Als er seine Augen wieder öffnet, ist sie fort.
    Leere übermannt ihn. Er lässt sich in den Schlaf fallen.

DELAWARE, STAAT DELAWARE
    W ayne fährt nach Žižkov. Mit der Straßenbahn. Das letzte Mal hat er etwa vor zwei oder drei Jahren in einer gesessen, er weiß es nicht mehr genau.
    In Delaware, Staat Delaware, gibt es keine Straßenbahnen. Es hat dort auch nie welche gegeben. Die Stadt hat kaum mehr als fünfzehnhundert Einwohner, von denen Wayne bis heute fast jeden vom Sehen kennt.
    Er sieht den breiten Fluss in die Bucht münden. Auf die Weltkarte wurde er vom Naturforscher John Franklin eingetragen. Franklin war der Meinung, dass er von hier aus die amerikanische Westküste oder zumindest den Norden erreichen könne, wo er dann schließlich erfroren ist. Wayne riecht den Duft der hunderttausend Pfirsichbäume, von dem im Frühling ganz Delaware durchtränkt ist und der für ein paar Wochen den Fischgestank überdeckt, der vom Hafen herangeweht kommt.
    Läge die Stadt nicht am Ufer eines Kanals, der einen Fluss und zwei Meeresbuchten miteinander verbindet, gäbe es nicht

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