Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
war sich Piccard nicht sicher, ob er ihn wirklich gesehen hatte, ob es nicht eine Untersee-Fata Morgana war, eine Halluzination elf Kilometer unter der Oberfläche des Ozeans, aber er war nicht allein in der Kabine. Und Walsh hatte den Plattfisch auch gesehen.
Die Strahlen der Reflektoren bohrten meterlange Lichttunnel in die unsichtbare Ferne hinein, das mit aufgewirbeltem Schlamm vermischte Wasser bildete ein strähniges Spinnennetz, das wie ein veränderbares abstraktes Gebilde vor den Augen der beiden Abenteurer rotierte. Mehr gab es nicht um sie herum. Nur den dunklen Ozean. Und die gewaltige, unendliche Stille, die in den ersten paar Minuten nur von Walsh gestört wurde, der herzhaft in ein knuspriges Baguette mit Hühnerfleisch, Salat und Mayonnaise hineinbiss. Piccard hatte nur Schokolade dabei, Walshs Baguette rang ihm ein leichtes Grinsen ab. In seinem Tagebuch bemerkte er, die Amerikaner würden wohl nicht einmal bei einer Marslandung vergessen, ans Essen zu denken. Ans Essen und daran, Fotos mit amerikanischer Flagge im Hintergrund zu schießen. Nachdem Walsh mit seinem Baguette fertig war, konnte man gar nichts mehr hören.
Sie blieben noch ein paar Minuten auf dem Grund liegen, beide ganz fasziniert von ihrer Leistung. Dann begann die Trieste mit dem Aufstieg. Um 16:56 tauchten sie wieder auf.
Piccard blieb nur ein Jahr lang ein Held. Vierzehn Monate später löste ihn Jurij Gagarin ab, die Menschheit hörte auf, sich für die Tiefe zu interessieren, und entflammte für die Höhe.
Die gewaltige Stille am Grund des Ozeans tauchte ein paar Jahre später in Piccards Träumen auf. Wieder sah er den Plattfisch, seine kleinen leuchtenden Augen und seine schwankende Schwanzflosse, und er musste sich abermals fragen, ob es Wirklichkeit oder eine Halluzination gewesen war, wieder hörte er nur noch die unendliche und alles überdeckende Stille, von der er sich damals gleichzeitig angezogen und abgestoßen gefühlt hatte und die ihn nun jede Nacht verschwitzt aus dem Schlaf erwachen ließ.
In seinen Notizen stand, die Stille am Grund des Ozeans sei womöglich ein Abbild der Unendlichkeit. Mitten durch diese Stille führe möglicherweise eine ganz dünne Linie in jenen Bereich, schrieb Piccard, an den er sich bisher als strenger Rationalist und Wissenschaftler geweigert hatte zu glauben. Zweifel plagten ihn. Er fing an, in die Kirche zu gehen.
Von der am Grund des Ozeans entdeckten Stille fühlte sich Vladimír magisch angezogen. Piccard war sein Held, seit er denken konnte. Er hat alle Zeitungsartikel über ihn ausgeschnitten und ihm einmal sogar einen Brief geschrieben, voller Bewunderung. Er hat nie eine Antwort bekommen.
Vladimír flößt die Möglichkeit, dass es eine vollkommene Stille gibt, Ruhe ein. Wenn das Leben wirklich aus dem Wasser entstanden ist, wurde es aus der Stille geboren. Aus jener Stille, aus der wir kommen, nach der wir suchen und in die wir zurückkehren werden.
ALLE MÄNNER DER WELT
V anda macht es sich auf dem Sofa bequem und beobachtet die Neonröhre. Sie liebt es, wenn es losgeht. Zuerst zwickt es leicht in der Nase. Dann kribbelt es ein wenig, wenn das Zeug weiter in Vandas Hirn hineinkriecht. Sie binnen einer Sekunde mit nach oben nimmt. Bis unter die Decke, wo sie kleben bleibt. Vanda weiß, sie könnte die Decke entzweihauen, dann könnte sie wie eine Neonröhre in der Dunkelheit leuchten und immer höher und höher steigen. Alle hundert Meter würde sie ein Lied komponieren, jedes besser als das andere. Sie hängt in der Luft wie eine strahlende Rakete. Alles glänzt. Schönheit pur. Ohne Grenzen.
Jemand berührt sie am Oberschenkel. Harry. Auf einmal steht sie wieder auf der Erde. Da will sie doch nicht hin. Noch nicht. Aber er zieht sie herunter.
»Scher dich zum Teufel.«
»Vanda, du siehst super aus, Mann. Das wollte ich dir nur sagen.«
»Verpiss dich!«
»Okay, okay, die Prinzessin hatte ’nen schlechten Abgang.«
»Fuck off!«
»Sorry, Mann, tut mir leid …«
»Hört doch endlich auf, ihr beiden«, sagt Tony beschwichtigend.
Harry zieht sich zurück und Vanda beruhigt sich. Sie steigt wieder nach oben und strahlt. Als sie endlich irgendwo zwischen der Atmosphäre und der Stratosphäre einen festen Platz findet, blickt sie auf Tony herunter. Er lächelt sie an. Ein hübscher Junge. Blond. Für einen Bassgitarristen vielleicht etwas zu schüchtern. Seine kleine Freundin ist allerdings noch zurückhaltender. Wie war das: Sie sind zusammen, seit die beiden
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