Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
sich gelassen zu haben. Erst jetzt merkte er, wie erschöpft er war.
Er zog ein Stück mehr Segel auf und ging nach unten, um einen Topf voll Ingwerbrühe für Smudge und Clem aufzusetzen und eine große Portion Pasta zu kochen. Er war so müde, dass seine Augäpfel in den Höhlen zu zittern schienen. Clem würde für eine Weile das Ruder übernehmen müssen. Nur eines musste er noch erledigen, ehe er Schlaf finden würde.
Die Spätnachmittagssonne schien sanft auf die Little Utopia herab, als er mit einem kleinen Eimer Hochglanzlack, den er unter dem Cockpitsitz gefunden hatte, die geschwungenen Buchstaben auf beiden Seiten des Bugs überpinselte. Es fühlte sich gut an, die abscheulichen Worte auszulöschen. Franks Utopie, seine perverse Vorstellung einer perfekten kleinen Welt, existierte nicht länger. Johnny überquerte das Deck, um sich den Namen am Bug vorzunehmen, tauchte den Pinsel in die Farbe und beugte sich über die Reling.
»Was tust du da?« Er fuhr herum.
Clem stand hinter ihm auf dem Niedergang. Sie war blass und sah müde aus. Seit achtundvierzig Stunden hatte sie keinen Bissen mehr gegessen, und noch viel mehr Zeit war vergangen, seit das letzte Mal ein Wort über ihre Lippen gekommen war.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er, den Pinsel immer noch in der Hand. »Unten steht Ingwertee, außerdem habe ich eine Portion Nudeln für euch gekocht.«
»Was tust du da?«, fragte sie noch einmal und sah auf den Pinsel.
»Ich überstreiche den Namen.«
Ihre Miene war ausdruckslos. »Aber das kannst du nicht machen.«
»Clem, wir dürfen kein Risiko eingehen. Wir müssen den Namen ändern.«
»Johnny«, sagte sie kopfschüttelnd, »man darf den Namen eines Boots nicht ändern. Niemals. Das bringt Unglück.«
»Wie viel Unglück könnten wir wohl noch haben, was meinst du?«, fragte er resigniert. Trotzdem war er froh, dass sie überhaupt wieder so etwas wie Interesse an ihrer Umwelt zeigte.
»Na gut«, sagte er. »Wie wär’s, wenn sie einfach keinen Namen hat?«
Sie nickte und wandte den Blick ab. Er überpinselte die restlichen Buchstaben, drückte den Deckel auf den Farbtopf, wickelte eine alte Plastiktüte um den Pinsel und ging nach unten in die Kombüse. Auch Smudge ging es deutlich besser. Sie tranken Ingwertee und aßen ganz langsam die Nudeln, um ihre Mägen nicht mit der plötzlichen Nahrungsaufnahme zu überfordern. Smudge saß mit ihrem Teller auf der Cockpittreppe. Wieder fiel ihm auf, sie sehr sie ihrer Mutter ähnelte, nur dass sie reichlich bleich und erschöpft wirkte; selbst Gilla, der an ihrer Seite saß, umgab eine Aura der Niedergeschlagenheit. Smudge sah zu, wie Clem das Geschirr abwusch und Johnny den Tisch nach unten klappte, um das Bett herzurichten.
»Ich will zu meinem Daddy«, sagte sie.
Johnny hielt mitten in der Bewegung inne.
»Kommen sie bald wieder zurück?«
Es wäre ihm lieber, er könnte diese Unterhaltung mit ihr führen, wenn sein Gehirn wieder anständig funktionierte. Er brauchte nur ein winziges bisschen Schlaf, zehn Minuten vielleicht, mehr nicht.
»Nein, noch nicht«, antwortete Clem.
Johnny drehte sich um und fing ihren Blick auf. Smudge zu belügen, brachte sie auch nicht weiter. Wenn er ein wenig geschlafen hatte, würden sie ihr sagen, dass sie nicht wiederkommen würden.
»Glaubt ihr, sie haben ein Pferd für mich gefunden?« Fröhlich hüpfte Smudge die Treppe hinunter.
Clem nahm ihr den Teller aus der Hand, woraufhin Smudge auf den Sessel sprang und einen Stapel Bücher aus dem Regal zog, den sie ins Vorschiff schleppte. Sie ging hinein und schloss die Badezimmertür hinter sich ab. Es kam ziemlich häufig vor, dass sie sich stundenlang zurückzog und sich ihre Bücher ansah.
Clem stand noch immer am Spülbecken und starrte auf die geschlossene Tür, während Johnny das Bettzeug herausnahm und seine Regensachen auszuziehen begann.
»Sie weiß es, Johnny.«
»Sie weiß was ?«, fragte er und zog sich beide Pullover auf einmal über den Kopf.
»Sie weiß, was wir getan haben.«
Er wandte sich ihr zu. Unter ihren großen braunen Augen lagen dunkle Schatten. »Das ist doch albern. Natürlich nicht.«
Er trat neben sie. Ganz vorsichtig legte er die Arme um sie und zog sie an sich; er fühlte ihr Verlangen, das ebenso stark war wie sein eigenes. Sie schlang die Arme um seine Taille und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Dies war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie sich in den Armen lagen. Er spürte, wie sich ihre Brust unter ihren
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