Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
tiefen Atemzügen hob und senkte, und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie sah ihn an. Er küsste ihre Wange, ihre Nase, ihre Lider, ihren Mund, ihre Tränen, und nach einer Weile erwiderte sie seine Küsse. Es war, als erinnerten sie sich plötzlich wieder aneinander, als erneuerten ihre Körper das Band, das sie einst verbunden hatte. Ihre Küsse wurden leidenschaftlicher, als fürchteten sie, die Zeit würde ihnen zwischen den Fingern zerrinnen. Sie zogen sich gegenseitig aus und schliefen miteinander, direkt vor dem Spülbecken, hart und voller Leidenschaft, weil es die einzige Möglichkeit war, einander noch zu erreichen.
Die Zärtlichkeit kam erst danach, als sie, befriedigt und ruhig, nebeneinander in der Koje lagen. Er strich über ihre glatte, dunkelbraune Haut, über ihr von der Sonne ausgebleichtes Haar, die Grübchen über ihrem Gesäß, den Schwung ihres Rückgrats, sog ihren holzigen Duft tief in seine Lungen, und spürte wieder die Fülle der Liebe, das Versprechen auf Frieden, der ihr innewohnte. Doch sein Wohlbehagen währte nur kurz; als er mit geschlossenen Augen dalag und der Schlaf ihn zu übermannen drohte, spürte er bereits, wie Clem ihm erneut zu entgleiten drohte. Sie hatte den Kopf abgewandt und blickte durch die geöffnete Luke nach draußen, Lichtjahre von ihm entfernt. Am liebsten hätte er ihren Kopf zu sich gedreht, ihr in die Augen gesehen und beteuert, dass alles gut werden würde, doch sein Körper fühlte sich wie Blei an und die Worte kamen niemals über seine Lippen. Stattdessen fiel er in einen tiefen, erschöpften Schlaf.
Er kam nur langsam zu sich und stellte fest, dass er noch in genau derselben Position dalag wie beim Einschlafen. Doch die Welt um ihn herum war nicht länger dieselbe. Clem lag nicht mehr in seinen Armen. Das Licht hatte sich verändert. Ein neuer Tag war angebrochen. Er wandte den Kopf und stellte fest, dass er elf Stunden durchgeschlafen hatte. Sein Nacken gab ein lautes Knacken von sich. Offenbar hatte er die ganze Nacht über stocksteif dagelegen, keinen einzigen Muskel gerührt. Blinzelnd streckte er sich. Seine Lider und seine Finger waren immer noch dick und geschwollen, doch der Schmerz in seinem Kopf und seinen Augäpfeln war verschwunden.
Das sanfte Schaukeln des Boots und die schlaff herabhängenden Segel verrieten ihm, dass Windstille herrschte. Doch das spielte keine Rolle. Sie waren inzwischen weit genug gesegelt. Er sah zum Cockpit hinüber. Smudge saß mit einem Buch auf dem Schoß auf dem Backbordsitz und sang leise ein Lied. Unentschlossen schwang der Mast über ihm hin und her.
Während er sich den Nacken massierte, kam er auf die Knie und ließ den Blick über die nahezu reglose Wasseroberfläche schweifen. Das Meer lag so still da, dass man glauben könnte, sie befänden sich auf einem See. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, wo sie gerade sein mochten. Weit und breit war kein Boot zu sehen. Weit und breit keine Spur von Frank. Erst als er sich wieder umdrehte, sah er Clem in einer Ecke des Bettes sitzen, vollkommen reglos, die Arme um die Knie geschlungen. Ihr Blick war auf ihn gerichtet.
»Hallo«, sagte er lächelnd und ließ sich langsam aufs Bett zurücksinken.
Sie rührte sich nicht vom Fleck. »Ich muss gehen, Johnny«, erwiderte sie mit leiser Stimme.
Er musterte sie verwirrt. »Gehen? Wohin denn?«
»Zurück.«
Er spürte, wie eine kühle Brise über das Boot strich, unter seine Haut drang und sich in ihm ausbreitete. Forschend blickte er sie an, versuchte, in ihrer Miene zu lesen, doch sie blieb ausdruckslos, ohne jede Gefühlsregung.
»Wohin zurück?«, fragte er, obwohl er ganz genau wusste, was sie damit meinte. Er wollte nicht, dass sie es laut aussprach. Am liebsten hätte er sich vorgebeugt und ihr die Hand auf den Mund gepresst, um zu verhindern, dass die Worte über ihre Lippen kamen, so fest und so lange, bis sie noch nicht einmal mehr so etwas denken konnte.
»Zu Frank.«
Die Welt um ihn herum schien zu erstarren. Lediglich ein einzelner Muskel in seiner Wange zuckte.
»Was wir getan haben, war falsch«, fuhr sie fort. »Ich werde Smudge mit nach Datça nehmen und dort warten. Er ist ein Kämpfer. Er wird überleben. Ich muss ihn finden.«
Sie hatte sich alles längst genau überlegt. Ihr Entschluss stand fest. Sie hatte sich alles zurechtgelegt, während er sich in der falschen Sicherheit des erholsamen Schlafs gewiegt hatte. Er fragte sich, wann sie ihren Entschluss gefasst hatte;
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