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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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die Kälte in seinem Innern die Oberhand gewann. Es war vergeblich.
    »Ach ja«, sagte er. »Und es ist dir ganz egal, dass er pädophil ist? Allmählich habe ich nämlich den Eindruck, als würde es dich gar nicht kümmern.«
    Einen Moment lang starrte sie ihn an, dann stand sie auf, als sei er derjenige, der all die abscheulichen Dinge von sich gab. Er wollte nicht, dass sie ging. Sie sollte zurückkommen, zu ihm ins Bett, ganz dicht neben ihm, nackt und grausam. Sie ging ins Badezimmer und schloss die Tür mit Nachdruck hinter ihr.
    Viel später kam Smudge zu ihm ins Cockpit und setzte sich auf seinen Schoß. »Warum bist du denn so traurig?«, fragte sie.
    Er drückte sie an sich und rang sich ein Lächeln ab. Er konnte nur staunen, dass seine Gesichtsmuskeln noch funktionierten, dass er das Boot segeln, Tee zubereiten und nach anderen Booten Ausschau halten konnte, obwohl er doch innerlich qualvoll starb.
    »Bin ich gar nicht«, log er und strich ihr das Haar glatt wie ein liebevoller Vater. Er würde nicht zulassen, dass auch Smudge sich von ihm abwandte. Dazu würde es nicht kommen.
    »Ich will Gilla haben, aber Clem lässt mich nicht ins Vorschiff«, erklärte sie verdrossen.
    Widerstrebend stand Johnny auf und ging nach unten. Als er vor der Tür stehen blieb, fiel sein Blick auf sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Der Anblick war ein Schock. Er sah völlig anders aus als sonst, älter und härter. Tiefe Furchen gruben sich in seine dunkelbraun gebrannte Haut. Sein Kinn war von schwarzen Stoppeln bedeckt, sein ausgebleichtes Haar lang und salzverkrustet, und in seinen Augen lag ein verbitterter Ausdruck. Er kannte diesen Mann nicht, der ihm entgegenblickte. Er wusste nicht, wohin der alte Johnny verschwunden und was mit Clem geschehen war.
    Er öffnete die Tür. »Smudge braucht Gilla«, sagte er beiläufig.
    Clem saß mit dem Rücken zu ihm im Schneidersitz auf dem Bett. Ihr T-Shirt war ihr über die Schulter gerutscht, und ihre Kette mit dem Herzanhänger hing verkehrt herum um ihren Hals.
    Er suchte den Raum nach Gilla ab, der an der Spinnakerluke ganz hinten lehnte. Da Clem keine Anstalten machte, ihm den Plüschgorilla zu reichen, kletterte er aufs Bett und griff nach ihm. Dabei bemerkte er, dass sie etwas in der Hand hielt. Ihr Gesicht war halb hinter ihrem Haar verborgen, trotzdem erkannte er die Qual auf ihren Zügen. Ihr Mund stand offen, ein dünner Speichelfaden hing von ihrer Unterlippe, und ihr glasiger Blick war auf das aufgeschlagene Buch in ihrem Schoß gerichtet. Im ersten Moment erkannte er es nicht wieder, doch dann fiel der Groschen. Sie hatte Gullivers Reisen gefunden. Und bei dem Gegenstand in ihrer Hand handelte es sich nicht um ein Blatt Papier, sondern um ein Foto. Er streckte die Hand danach aus, doch sie hielt es so fest, dass er es mit einem Ruck aus ihrem Griff befreien musste.
    Bis zu diesem Moment hatte er es vermieden, sich die Schweinereien genauer anzusehen. Doch nun tat er es. Das Foto zeigte ein kleines blondes Mädchen von höchstens sieben oder acht Jahren. Es lag auf einem Bett, mit Händen und Knöcheln an die Pfosten gefesselt, und starrte entsetzt in die Kamera. Davor, am rechten Bildrand, war eine Hand zu erkennen, die einen Bettpfosten umklammerte – eine Rechte, die er nur allzu gut kannte. Eine Hand mit zwei fehlenden Fingerspitzen.
    Langsam ließ Johnny sich gegen den Schiffsrumpf sinken, während das Foto seinen Fingern entglitt.
    Tja, jetzt wusste sie es.
    Es war Abend und immer noch heiß. Sie ankerten vor einer kleinen Inselgruppe nördlich von Sizilien. Neuerdings mieden sie größere Häfen und legten nur an, wenn sie Diesel oder Frischwasser brauchten. Ansonsten suchten sie kleine Buchten auf, um den Behörden und größeren Menschenansammlungen aus dem Weg zu gehen. Trotzdem stießen sie auf Schritt und Tritt auf irgendetwas, das sie an die Vergangenheit erinnerte – ein Kleidungsstück, ein Hinken oder ein tiefes Lachen, ein Lied oder manchmal auch nur ein einzelnes Wort, das zu ihnen herüberwehte. Anfangs war Smudge zu wildfremden Menschen gelaufen und hatte sie gefragt, ob sie ihre Mummy und ihren Daddy gesehen hätten, während Clem und Johnny direkt daneben standen. Aber jetzt hatte sie es schon eine ganze Weile nicht mehr getan; nicht mehr, seit Johnny ihr erklärt hatte, dass sie nicht zurückkommen, sondern in der Türkei bleiben und Clem und Johnny jetzt auf sie aufpassen würden. Er hatte ihr die Angelegenheit so sachlich wie

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