Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
höchstwahrscheinlich schon bevor sie miteinander geschlafen hatten. Damit war der Sex zwischen ihnen nichts als eine Gnadennummer gewesen.
»Wieso?«, fragte er.
Sie wandte den Blick ab, während er spürte, wie die Kälte langsam durch seinen Körper kroch, an seinen Armen und Beinen entlang, über die feinen Härchen in seinem Nacken. Er zog den Schlafsack enger um sich, doch der seidige Stoff spendete keinerlei Wärme. Er wollte nicht hören, was sie zu sagen hatte. Er musste dem Ganzen ein Ende setzen, jetzt sofort.
»Ist schon gut, Clem«, meinte er beschwichtigend. »Wir fahren einfach weiter. Wir segeln nach Sizilien, Sardinen, Korsika. Wir verholen das Boot aufs Trockendock, und alles wird –«
»Ich liebe ihn« unterbrach sie ihn, sodass seine Worte im Nichts verklangen.
Fassungslos starrte er sie an. Sie hätte ihm ebenso gut das alte Küchenmesser in den Leib rammen können.
»Es tut mir so leid, Johnny.«
Er schüttelte den Kopf und rang nach Luft. Einen Moment lang fürchtete er, sich übergeben zu müssen.
»Es tut mir so leid«, wiederholte sie und biss sich auf die Lippe.
Der Anblick der Tränen, die ihr über die Wangen kullerten, spendete ihm für einen kurzen Moment ein wenig Trost. Ein Hoffnungsschimmer glomm in ihm auf, doch dann wischte sie die Tränen mit dem Ärmel ab, und er begriff, dass sie nicht ihm galten, sondern sie den Tod ihrer Liebe beweinte. Er dachte an Annie, an den Song, den sie zuletzt gesungen hatte. »When she says her love is dead …«
»Aber wieso?«, hörte er sich fragen, während sich der Schmerz erst allmählich einen Weg zu seinen Nervenenden bahnte. »Wieso tust du das?«
Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Ich fühle mich innerlich wie tot, Johnny. Als bekäme ich keine Luft mehr …«
Er öffnete den Mund, um zu protestieren, doch das Einzige, was er spürte, war diese Eiseskälte, die sich um seine Eingeweide legte.
»Und ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn so sehr«, fuhr sie weinend fort, ohne Rücksicht darauf, dass sie ihm damit das Herz brach.
»Aber wir sind verheiratet«, flüsterte er.
»Du hast dich verändert, Johnny. Ständig hast du etwas an mir auszusetzen. Ich sehe es in deinen Augen. Du verurteilst mich … immer … Du magst mich noch nicht einmal mehr. Und auch ich habe mich verändert … Ich sehe die Dinge nicht mehr so wie früher … Es gibt so vieles, was sich in meinem Innern abspielt …«
»In meinem Innern spielt sich auch etwas ab«, schrie er. »Und zwar eine ganze Menge. Du irrst dich. Ich liebe dich so sehr, Clem.« Seine Stimme brach, und ein dicker Kloß bildete sich in seiner Kehle, der verhindern sollte, dass der Schmerz aus ihm herausbrach.
»Das weiß ich«, sagte sie mit sachlicher Stimme, als wäre seine Liebe viel zu billig, um ins Gewicht zu fallen.
Inzwischen weinte er. Sein Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt, die ihm den Atem raubten. Es gab nichts mehr, was er ihr noch bieten könnte. Nichts. Sie wollte ihn nicht mehr. Sie würde seine Liebe einfach gegen Franks eintauschen. Sie servierte ihn ab, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte, weil er noch immer mit ihr verbunden war, sich an sie klammerte, an seine Lebensader. Es gelang ihm nicht länger, den Schmerz in Schach zu halten. Gnadenlos schnitt er sich in seine Eingeweide, ganz tief hinein. Eine Hand auf den Bauch gepresst, wiegte er sich rhythmisch vor und zurück, als ihm unvermittelt bewusst wurde, dass Smudge mit baumelnden Beinen im Cockpit saß und von dem Massaker unter Deck nichts mitbekam. Er versuchte, tief Luft zu holen und sich ein wenig zu beruhigen. Mit dem Schlafsackzipfel wischte er sich die Tränen ab, nahm all seine restliche Würde zusammen, setzte sich auf und musterte sie – diese kalte, grausame Fremde. Er erkannte sie nicht mehr. Seine Clem hätte seine Liebe niemals auf diese Weise verraten. Seine Clem war verlässlich und treu.
»Ich kann nur für dich hoffen, dass du weißt, was du tust, Clem«, sagte er und bemühte sich mit aller Macht, seinen eigenen Worten Glauben zu schenken. »Du willst mich verlassen? Na schön, aber ich schwöre dir, dass ich dich nicht zurücknehmen werde. Verstehst du das?«
Sie wandte sich ihm zu. Er sah den Schmerz, die Scham in ihren blutunterlaufenen Augen. Dann nickte sie. Das war es, das Ende. Er sah es: Sie hatte sich längst von ihm abgewandt, ihn verlassen. Er spürte, wie seine Wut verebbte und
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