Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
wandte sich Johnnys Dad zu und blickte ihn mit ernster, eindringlicher Miene an. »Ich werde deinen Sohn bis zum Ende aller Zeit lieben. Bis zu dem Tag, wenn die Welt längst aufgehört hat, sich zu drehen, wenn die Sonne nicht länger aufgeht und alle Sterne am Himmel verglüht sind. Du wirst schon sehen.«
Johnny drückte ihre Hand und spürte ein Brennen in seinen Augen sowie einen dicken Kloß in seiner Kehle.
»O ja, das gefällt mir«, sagte sein Dad. » Bis alle Sterne am Himmel verglüht sind – das klingt doch schon viel besser. Clemency Bailey, willst du diesen Mann als deinen rechtmäßig angetrauten Ehemann nehmen?«
»Ja, ich will.«
»Der Ring, Rob?«
Rob beugte sich vor und reichte Johnny Clemencys Ring. Vorsichtig schob er ihn auf Clems eiskalten Finger. »Damit erkläre ich euch zu Mann und Frau. Möge die Sonne immer auf euch herabscheinen!«
Und genau das tat sie auch. In diesem Augenblick schob sich die Sonne über eine Senke in den Bergen und tauchte das Boot in goldenes Licht.
Die Anwesenden jubelten und klatschten, dann meinte Sarah: »Dann können wir ja jetzt zurückfahren. Ich bin bis auf die Knochen durchgefroren.«
Eilig schnappte Rob die Klüverleine, doch weder Johnny noch Clem machten Anstalten, sich vom Fleck zu rühren. Ihnen war nicht kalt. Vielmehr loderte ein Feuer in ihnen, das sie von ihnen heraus zu erwärmen schien. Sie sahen einander in die Augen. Nun waren sie verheiratet.
Als sie in den Hafen zurückkehrten und das schwere Boot aus dem Wasser zerrten, schlotterten zwar alle fünf vor Kälte, trotzdem waren sie von einer neuen, ungekannten Wärme erfüllt. In diesem Moment entdeckte Johnny Clems Vater, der mit einer Zigarette in der Hand am Bootshaus auf sie wartete. Er trug einen braunen Anzug mit Schulterpolstern und beobachtete, wie sie das Boot auf den Anhänger verfrachteten. Johnny sah zu Clem hinüber, um herauszufinden, ob sie ihren Vater bemerkt hatte. Doch sie war halb hinter dem Bootsrumpf verborgen und hatte den Kopf gesenkt und schob mit aller Kraft. Johnny holte tief Luft. Niemand würde ihnen diesen Tag verderben. Und niemand würde seiner Frau jemals wieder wehtun. Er registrierte, dass Jim auf sie zutrat, nahm ihn jedoch nicht zur Kenntnis. Als sie den Anhänger um die eigene Achse drehten, sah Johnny ihn an. »Wieso kommen Sie erst jetzt?«, fragte er.
»Ja, äh, tut mir leid«, erwiderte Jim, strich sich mit der Hand übers Haar und zog an seiner Zigarette. »Ich musste vorher noch Liz und die Jungs bei ihrer Mutter absetzen und …«
Der Rest des Satzes blieb ungesagt. Wie aus dem Nichts schnellte Johnnys Faust vor und traf Jim mitten zwischen die Augen – ein Hieb, dessen Akkuratesse und Wucht selbst Johnny verblüffte. Das Ganze ging so schnell, dass die anderen bis auf Rob nicht einmal etwas davon mitbekamen. Mit gesenkten Köpfen schoben sie die Fireball auf dem Anhänger zum Parkplatz, ohne den Mann mit dem schicken Anzug zu bemerken, der mit blutendem Gesicht im Kies lag.
Bei Sonnenaufgang kam Regen auf, und Johnny zog Franks Ölzeug über. Der Wind war so heftig, schien jedes Haar einzeln von seinem Kopf reißen zu wollen, dass es sich wie ein persönlicher Rachefeldzug gegen ihn anfühlte. Tief versank der Bug in den Wellen, jedes Mal mit einem lauten Knall. Nach einer Weile kam Smudge aus dem Vorschiff ins Cockpit, um ihnen von ihren Träumen zu erzählen. Sie hatte geträumt, sie habe Sprungfedern anstelle von Beinen und sei Hunderte von Metern hoch über die Wellen getanzt. Sie sei eine ausgezeichnete Wellenhüpferin gewesen, meinte sie und rätselte, ob ihr dasselbe wohl auch jetzt gelingen würde, da sie wach war. Augenblicke später beugte sie sich vor und übergab sich mit einem Schwall in den Niedergang.
Johnny zog ihr das Regenzeug über und schöpfte einen Eimer voll Wasser, den er über die Lache kippte, dann schnallte er sie fest. Sie saß auf ihrem Platz, klammerte sich fest und übergab sich immer wieder aufs Neue. Obwohl sie den ganzen Tag über kein einziges Mal nach ihren Eltern fragte, schienen Frank und Annie überall an Bord zu sein, in jeder Ecke und jedem Winkel des Bootes. Der Wind legte immer mehr zu, und die Wellen schlugen höher, sodass kaum Zeit zum Nachdenken blieb. Segeln bei schwerem Seegang erforderte ein enormes Ausmaß an Konzentration, und Seekrankheit schlug zu sehr auf den Körper und aufs Gemüt, um an etwas anderes als an die unerträgliche Übelkeit zu denken. Überleben – das war das
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