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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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überzuquellen drohte. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet. Es fühlte sich so unglaublich gut an. So als wäre er endlich wieder zu Hause.
    Es wäre ein Leichtes gewesen, den Druck zu erwidern, seine Finger um ihre Hand zu schließen, seine Handfläche gegen ihre zu pressen und den Frieden zu schließen, nach dem er sich so unendlich sehnte. Doch er brachte es nicht über sich. Er musste sie noch weiter bestrafen. Sie musste Zurückweisung erfahren, verstehen, welche Kränkung sie ihm zugefügt hatte. Er musste sie noch weiter leiden lassen, so wie sie es mit ihm getan hatte. Sie sollte um Vergebung betteln, sich für all den Schaden entschuldigen, den sie angerichtet hatte, bevor sie wieder eins werden konnten. Und so reagierte er nicht auf die warme Hand, sondern ließ einen kurzen Moment liegen, ehe er Clem ein weiteres Mal bestrafte. Dann löste er sich von ihr, auch wenn er sich noch so sehr dafür hasste, und wandte sich ab. »Das muss Smudge unbedingt sehen«, sagte er und ging unter Deck, um sie zu holen.
    Als er zurückkam, bemerkte er, dass sie geweint hatte. Goldene Schlieren glitzerten auf ihren Wangen im orangefarbenen Schein des Magmas und führte ihm das Ausmaß der Verderbtheit des neuen, grausamen Johnny vor Augen. Niedergeschmettert setzte er sich hin und beobachtete, wie die Erde ihr Herz nach außen stülpte, doch es war nicht mehr dasselbe. Das Schauspiel hatte seine Magie verloren.
    Am nächsten Tag liefen sie im Hafen der Nachbarinsel ein. Sie brauchten frischen Diesel und Lebensmittel, weil ihnen so ziemlich alles an Vorräten für die Weiterreise nach Norden ausgegangen war. Suchend ließ Johnny den Blick über die anderen Boote schweifen, jedes Einzelne, jedes Hemd auf jeder Leine, die Grüße jedes einzelnen Schuhpaars, die auf den Decks herumstanden. Sie waren eine ganze Woche nicht mehr an Land gewesen, und wie üblich fühlte es sich seltsam an, so als schwanke der Boden unter ihren Füßen, als sie mit Smudge an der Hand zu dritt den Steg entlanggingen – der Inbegriff der perfekten kleinen Familie.
    Auch diese Insel war vulkanisch, mit hohen Bergen, schwarzem Sand und saftigen Wiesen, ein herrlicher, unverdorbener Ort für unverdorbene Menschen. Sie würden nicht lange hierbleiben. Im Zollhaus bezahlte er die Anlegegebühr und reichte den Beamten ihre Pässe, wie gewohnt mit klopfendem Herzen, während sein Blick unablässig umherschweifte. Wie üblich hatten sie Smudge mit einem Bestechungsgeschenk zum Schweigen verdonnert – diesmal war es das Versprechen, den Berg zu erklimmen, wo die Schaulustigen über eine Mauer ins Tal blicken konnten.
    Sie nahm Johnnys Hand, als sie die steilen Straßen hinaufgingen, die Hüte tief in die Gesichter gezogen, die Augen hinter ihren Sonnenbrillen verborgen. Clem folgte ihnen in einiger Entfernung. Sie schlenderten durch schmale, schattige Gassen, vorbei an hohen, bunt gestrichenen Häusern mit Balkonen, auf denen blütenweiße Wäsche im Wind flatterte. Am Ende jeder Gasse bot sich ein Ausblick auf das Meer mit dem strahlend blauen Himmel darüber, und Smudge lief umher und jagte verlausten Hunden und mageren Katzen hinterher. Vor einiger Zeit hatte er ihr die Haare abgeschnitten, und bei jedem Landausflug trug sie ihre Baumwollhose, in der sie wie ein Junge aussah. Aber das war ihr egal. Sie hatte viel Zeit damit verbracht, zu üben, wie sie sich auf die Reling stellen musste, um genauso wie Johnny im Stehen darüber pinkeln zu können.
    »Ich hab’s lieber, wenn wir nur zu zweit sind«, flüsterte sie, als sie den Hügel erklommen hatten und in einem antiken griechischen Amphitheater standen. Er sah sie an, dann schweifte sein Blick zu Clem, die gegen eine Mauer in einer der unteren Reihen gelehnt stand und aufs Meer hinausblickte, als lägen all die Antworten in der Unendlichkeit verborgen. Er versuchte, die Situation aus Smudges Blickwinkel zu betrachten: Clem war keine allzu angenehme Gesellschaft. Ihre Depression ließ jeden Funken Lebensfreude rings um sie herum jäh erlöschen, dabei brauchte Smudge diese Lebensfreude wie das tägliche Brot. Und er selbst war so sehr mit dem Zustand ihrer Beziehung beschäftigt gewesen, dass er völlig außer Acht gelassen hatte, ob Smudge glücklich war oder nicht. Die Atmosphäre war alles andere als gut. Es war erstaunlich, wie schnell und mühelos sich diese funktionale Animosität zwischen ihnen entwickelt hatte, wie der Krieg zwischen ihnen zum Normalzustand geworden war, nur selten

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