Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
möglich erklärt, und zu seinem Erstaunen schien sie die Nachricht nicht allzu sehr aus der Bahn geworfen zu haben, zumindest solange sie sich an Bord aufhielten. Trotzdem glaubte sie Annie und Frank an jeder Ecke zu sehen. Sie verfolgten sie ebenso wie Clem und Johnny. Das war nun einmal das Kreuz, das er zu tragen hatte, sagte er sich. Für den Rest seines Lebens würde er Augen im Hinterkopf brauchen, niemals wirklich frei sein, sondern stets damit rechnen, dass ihm jemand auf die Schulter tippte. Darauf, dass er sich umdrehte und den Bärenmann vor sich stehen sah, der sein Leben von ihm zurückverlangte. Und Clem erging es genauso. Er sah es an der Art, wie sie beim Anblick eines Hemds in einer bestimmten Farbe oder der hochgewachsenen Gestalt eines Mannes zusammenfuhr. Alles schien sie zu erschrecken, ihr Angst einzujagen. Ihr einst freier Geist war erstickt, ihr unerschütterlicher Glaube an das Gute auf der Welt jäh zerstört. Sie sprachen nie über ihn. Sie sprachen überhaupt so gut wie nichts. Was ihm in gewisser Weise sogar entgegenkam, zumindest für den Augenblick, da das Thema Frank viel zu schmerzhaft war, um es aufs Tapet zu bringen. Der Schaden, den er angerichtet hatte, war viel zu groß, deshalb hielt er es für klüger, all diese Dinge nicht mehr zu erwähnen. Und so war die Kluft zwischen ihnen immer weiter angewachsen, und Clem hatte sich immer mehr in sich zurückgezogen. Sie zeichnete nicht länger und las auch nichts, sondern saß lediglich reglos auf dem Deck und starrte aufs Wasser hinaus, ein Schatten ihres einstigen Selbst. Wenn sie an Land gingen, zog sie sich ihren Hut tief ins Gesicht und verschanzte sich hinter einer Sonnenbrille. Sie sah auch völlig anders aus als früher. Ihr Haar war im Lauf der Monate dünn und lang geworden, und ihre Locken hatten sich geglättet, als mache die Depression nicht einmal vor ihren Haarspitzen halt. Wenigstens war sie noch da. Sie hatte ihn nicht verlassen. Manchmal redete er sich ein, dass es ihr bestimmt bald besser gehen würde, ihr altes Ich irgendwann wieder zum Vorschein kommen und sie es gemeinsam schaffen würden. Auch wenn er es nur ungern zugab, konnte er nicht leugnen, dass er an ihrem Leid nicht unschuldig war, doch ein kleiner, gemeiner Teil von ihm fand, dass sie es verdient hatte, zu leiden. Sie musste für ihre Blindheit, ihren Verrat bezahlen. Trotzdem sehnte er sich danach, dass sie wieder ganz die Alte war. Alles sollte wieder genau so sein wie früher, obwohl ihm natürlich klar war, dass das unmöglich war. Kein einziges Mal hatte sie Anstalten gemacht, die Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren. Und er genau so wenig, fiel ihm nun, da er darüber nachdachte, auf.
»Johnny«, hörte er ein Flüstern und schlug die Augen auf. Es war mitten in der Nacht, er musste eingeschlafen sein. Clem kauerte neben dem Bett. »Wach auf.«
Normalerweise blickte er beim Aufwachen auf ihren Rücken und musste sich jedes Mal aufs Neue die Kluft vergegenwärtigen, die zwischen ihnen gähnte. Doch heute war es anders: Er sah ihr ins Gesicht und bemerkte das alte Funkeln in ihren Augen. Vielleicht träumte er ja bloß, denn in seinen Träumen war ihre Liebe immer noch intakt und wunderschön. Er setzte sich auf. »Was ist los?«
»Komm hoch ins Cockpit.«
In diesem Moment hörte er es, ein Ächzen, Seufzen, Grollen. Das Stöhnen eines Drachen, ein fernes Rumpeln, ein Gewehrschuss und eine Explosion. Er schlug die Decke zurück und rannte die Kombüsentreppe hinauf.
»O mein Gott!«, rief er und taumelte rückwärts.
Sie hatten direkt neben einem aktiven Vulkan geankert. Der Berg vor ihnen, aus dem gestern Abend noch Rauchschwaden aufgestiegen waren, hatte sich als überaus lebendig entpuppt. Die Erde spie glühend rotes Feuer aus ihrem Bauch in die nächtliche Dunkelheit hinaus, zornige Fontänen aus flüssigem weißen und orangefarbenen Fels wurden emporgeschleudert; gurgelnde Flammenrülpser, die klatschend auf dem Kraterrand landeten und funkelnd wie flüssige Diamanten wieder in seinen Tiefen verschwanden, ehe die nächste Salve hinauskatapultiert wurde. Staunend vor Ehrfurcht verfolgten sie das Schauspiel von ihrem perfekten Aussichtspunkt aus, sahen zu, wie die Erde ächzte und stöhnte. Keiner von ihnen hatte je etwas so Wunderschönes gesehen.
Und dann geschah etwas sehr Ungewöhnliches, augenscheinlich ausgelöst von der Erde selbst: Er spürte, wie Clem ihre Hand in die seine schob und sein Herz selbst vor Freude
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