Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
ihren eigenen Gott glaubte, der die Kirche zwar für reine Zeitverschwendung hielt, aber nichts dagegen hatte, mit der einen oder anderen Bitte belangt zu werden. Doch bislang hatte er sie noch nie beten oder auch nur auf den Knien gesehen. In diesem Augenblick war ihm klar, dass er sie ernsthaft im Stich gelassen hatte. Sie sollte nicht bei jemand anderem Trost suchen. Die Vorstellung, sie könnte zulassen, dass sie von jemand anderem mehr abhängig war als von ihm, war grauenhaft. Gott, solltest du sie hören, dann hol uns bitte hier raus.
Sie hörten die Musik im selben Moment. Sie schien geradewegs durch den strömenden Regen zu wehen: schmeichelnde Gitarrenklänge, begleitet von einer klaren, fast engelsgleichen Frauenstimme. Die Musik kam ganz aus der Nähe, von irgendwoher hinter den Felsen, als würde eine Meerjungfrau auf einem der Findlinge sitzen und sie mit ihrem süßen Gesang locken. Verblüfft sahen sie einander an. Keiner von ihnen regte sich, während die glockenklare Stimme sie für einen Moment aus ihrer Misere riss.
»I see a bad moon arising … I see trouble on the way … I see earthquakes and lightening … I see bad times today …«
Die Meerjungfrau sang für sie beide, fasste ihrer beider Sorgen und Nöte in Worte. Langsam reckte Johnny das Kinn gen Himmel und spürte, wie der Regen über sein Gesicht hinwegwusch und die Musik bis in sein Innerstes drang.
»I hear hurricanes ablowing … I know the end is coming soon … I fear rivers overflowing … I hear the voice of rage and ruin …«
Wie in Trance erhoben sie sich, ganz langsam, als könne jede abrupte Bewegung die Sängerin stören, und lauschten eindringlich. Johnny bückte sich und hob vorsichtig ihre Tasche vom Boden auf, während Clem wie in Zeitlupe ihren Gebetsteppich zusammenrollte und sich unter den Arm klemmte. Sie nahm Johnnys Hand, und sie folgten der Stimme, kletterten behände über die Felsen, erfüllt von Hoffnung und neuem Mut.
Sie gingen weiter, bis eine kleine, halb verlassene Bucht vor ihnen auftauchte. Seltsamerweise war sie ihnen bisher nie aufgefallen; vielmehr schien sie wie aus dem Nichts gekommen zu sein, nur um ihnen jetzt Schutz zu bieten. Unmittelbar dahinter befand sich die Werft, wo sie jeden Tag gearbeitet hatten, doch die Bucht war von der Straße aus nicht zu erkennen.
Mehrere kleine Boote lagen vor Anker, und in der Dunkelheit waren einige der typischen, weiß gestrichenen Häuser am Ufer zu erkennen. Die einzige Lichtquelle stammte von einem kleinen Boot, das an einem kurzen Anleger knapp fünfzig Meter vor ihnen festgemacht hatte und auf dem aufgewühlten Wasser tanzte. Die Cockpittüren waren angelehnt, sodass warmes, gelbliches Licht auf das Achterdeck fiel, in dessen Schein der prasselnde Regen zu erkennen war.
Die Stimme der Meerjungfrau kam eindeutig von dem Boot. Wie ein Sonnenstrahl drang sie durch den Regen und berührte sie mit ihrer Wärme.
»Don’t go round tonight … it’s bound to take your life … there’s a bad moon on the rise …«
Mittlerweile war noch eine zweite Stimme eingefallen, eine Kinderstimme, die sich in perfekter Harmonie mit der Frauenstimme vereinte.
Nun, da Johnny und Clem etwas besser sehen konnten, wirkten die Felsen weitaus weniger rutschig, sodass sie mühelos Halt fanden. Der Regen nahm weiter zu, während das Gewitter immer näher zu ziehen schien. Sie schwangen sich von den Felsen auf den schmalen Steg und gingen ein paar Meter nach vorn zu der hölzernen Plattform. Nun, da sie sich seitlich des Boots befanden, wurden die Stimmen ein wenig leiser. Johnny rückte die Tasche auf seinen Schultern gerade und nahm Clems Hand. Sie traten auf die Plattform. Ihre klitschnassen Schuhe gaben keinerlei Geräusch von sich, als sie sich langsam über die Planken dem Boot näherten und vor dem Heck stehen blieben. »The Little Utopia« stand in geschwungenen Lettern auf dem Spiegelheck. Und so erschien sie ihnen auch – eine Utopie, ein himmlischer Ort der Wärme, des Lichts und der Musik.
3 the little utopia
Die Little Utopia war ein kleines Boot, bestenfalls zwölf Meter lang. Die Schiebeluke war geschlossen, damit es nicht in die Kajüte hineinregnen konnte, die Cockpittüren waren jedoch nur angelehnt. Vom Achterstag über Johnnys Kopf flatterte der Union Jack wild im Wind. Sie standen reglos da, Hand in Hand, nass bis auf die Knochen, ohne den prasselnden Regen zu beachten, wie magisch angezogen von dem Licht und den Lauten, die aus der
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