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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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jung, Mitte dreißig, schätzte er. Die Frau hatte die Stirn in Falten gelegt und biss sich konzentriert auf die Unterlippe. Ihre Augen waren hellblau und an den äußeren Winkeln leicht nach unten geneigt, was ihren Zügen eine gewisse Traurigkeit verlieh. Sie hob den Blick und ertappte ihn, dass er sie anstarrte. Wieder breitete sich dieses Lächeln auf ihrem Gesicht aus, bei dessen Anblick Johnny nur staunen konnte, wie schnell es die Traurigkeit vertrieb. Das Lächeln schien sie in einen völlig anderen Menschen zu verwandeln.
    »Alles klar?«, fragte sie Clem, wischte die Pinzette ab und legte sie in den Verbandskasten zurück. »Die größten müssten draußen sein.«
    »Danke«, sagte Clem und erwiderte das Lächeln der Frau. Inzwischen war ihr warm, und ihre Wunden waren versorgt. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Bestimmt waren ihre Gebete erhört worden. Diese Leute hatten sie gerettet. Sie nahm Johnnys Hand und küsste nacheinander seine Fingerspitzen, während sie zusahen, wie der Mann ein paar Gläser aus dem Kombüsenschrank über der Kochplatte nahm. Er wischte sie gemächlich und vorsichtig mit einem Geschirrtuch ab und stellte sie auf den Tisch. Dann beugte er sich vor, legte seine Pranke mit den fehlenden Fingerspitzen auf die Schulter seiner Frau und griff nach einer großen Flasche Raki im Regal hinter ihr, dann öffnete er den Kühlschrank und nahm eine Flasche Wasser heraus.
    Es war genau das, was sie jetzt brauchten. Sie sahen zu, wie er den Raki einschenkte und mit Wasser auffüllte, woraufhin die milchige Flüssigkeit in den Gläsern zu kreiseln begann und die Kajüte mit köstlichem Anisduft erfüllte.
    »Runter damit!«, erklärte er, setzte sich neben seine Frau und schob Johnny und Clem zwei Gläser zu.
    Sie hoben sie an die Lippen und kippten den Inhalt in einem Zug hinunter. Johnny spürte das scharfe Brennen in seiner Kehle, gefolgt von einer glühend heißen Flamme, die sich durch seinen Magen bis in seinen Unterleib fraß. Der Bärenmann schenkte ohne Umschweife nach.
    »Danke«, sagte Johnny und sog scharf den Atem ein, um den Brand in seinem Innern zu löschen. »Ich glaube, wir schulden Ihnen eine Erklärung.«
    Der Bärenmann sah ihn an. Seine dunkelbraunen Augen funkelten. »Ihr schuldet uns gar nichts«, erwiderte er und nahm eine Schachtel Zigaretten aus dem Regal hinter sich. Es klemmte das Softpäckchen zwischen seine Finger, klopfte kräftig gegen den Boden und fing die herausschnellende Zigarette mit den Lippen auf. Dann legte er den Kopf schief und zündete sie an. Lächelnd legte er das Feuerzeug auf den Tisch, stieß es an und sah zu, wie es über die hölzerne Platte schlitterte.
    »Habt ihr Hunger?«, fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, standen er und seine Frau auf und zogen die Knie an, sodass er den Sitz unter ihnen hochklappen und eine große Tüte Chips herausholen konnte. Er riss sie mit seinen Pranken auf, legte sie auf den Tisch und bedeutete ihnen, sich zu bedienen, während er nach der Gitarre griff, die neben ihm auf dem Boden stand. Dieser Mann schien ständig in Bewegung zu sein. Johnny beobachtete, wie seine Finger mit beiläufiger Lässigkeit über die Saiten strichen.
    Johnny und Clem hatten Bärenhunger und verputzten den gesamten Inhalt der Chipstüte, während der Mann und die Frau ihren Beschäftigungen nachgingen, als wäre es an der Tagesordnung, dass wildfremde Leute zu Besuch an Bord kamen. Er spielte Gitarre, und sie nähte einen Knopf an einem Kleidungsstück an. Als die Frau erneut zu singen anhob, hielt Johnny inne und lauschte völlig fasziniert ihrer Stimme. Er legte die Hand auf Clems Bein und sah ihr in die Augen.
    Siehst du? , signalisierte er mit der Geste. Am Ende ziehen wir uns doch immer wieder aus der Scheiße . Das war seine felsenfeste Überzeugung. Er würde sie niemals im Stich lassen. Überglücklich, dass sie endlich sicher im Warmen saß, lächelte sie und stieß mit ihm an. Sie schlug die Beine unter und lauschte den Gitarrenklängen des Mannes und der herrlichen Stimme der Frau, während die Wellen gegen den Bootsrumpf schlugen und der Regen niederprasselte.
    »Wir dachten, Sie wären eine Meerjungfrau«, sagte Clem, als die Frau ihren Gesang unterbrach.
    Sie blickte von ihrem Nähzeug auf und lachte. Wieder gelang es Johnny nur mit Mühe, den Blick von ihrem Gesicht zu wenden.
    »Als wir Sie hinter den Felsen gehört haben«, fuhr Clem fort, »hat es sich angehört, als würde ein Engel

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