Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Kabine drangen. Die Engelsstimme hatte sie hierhergeführt. Das Lied näherte sich dem Ende. Trotz der Nässe und der Kälte wünschten beide, die Meerjungfrau würde weitersingen, bloß nicht menschlich werden. Für den Augenblick waren sie mit der Aussicht, gleich in Sicherheit zu sein, mehr als zufrieden.
»Don’t go round tonight … it’s bound to take your life … there’s a bad moon on the rise …«
Als die Gitarrenklänge verebbten und der Regen wieder die Oberhand gewann, räusperte Johnny sich.
»Hallo?«, rief er über die Kakofonie der Elemente hinweg, während ein leuchtend heller Blitz über ihren Köpfen zuckte.
Sekunden später wurde der Riegel zurückgeschoben, und ein Mann streckte den Kopf heraus. Er war gut aussehend, sehr groß, dunkelhaarig und unrasiert, fast bärengleich. Mit beiden Händen schirmte er sein Gesicht gegen den Regen ab und spähte in die Dunkelheit.
»Hallo?«, rief er und trat auf den Niedergang. Er trug ein helles T-Shirt, das der Regen jedoch innerhalb kürzester Zeit dunkel färbte.
Sie beobachteten, wie sein Blick an ihnen hängen blieb und sein Argwohn innerhalb weniger Sekunden aufrichtiger Besorgnis wich. Johnny dämmerte, was für einen erbarmungswürdigen Anblick sie bieten mussten. Er wandte sich Clem zu und sah im Schein der Kabinenbeleuchtung, dass sie sich eine Schnittverletzung am Kinn zugezogen hatte und das Blut in roten Schlieren an der Vorderseite ihres T-Shirts herablief. Sie hatte einen Schuh verloren, und ihre Füße und Knöchel waren von Schrammen und Kratzern übersät. Wenn man sie so sah, schätzte man sie höchstens auf fünfzehn, und auch er selbst wirkte nur unwesentlich älter.
»Großer Gott. Ist alles in Ordnung mit euch?«, fragte der Bärenmann, doch weder Johnny noch Clem war imstande, etwas zu erwidern. Es war ziemlich offensichtlich, dass mit ihnen keineswegs alles in Ordnung war. Der Mann ließ den Blick am Kai entlang zum Ufer schweifen, als rechnete er damit, dass noch mehr von ihrer Sorte auftauchen würden. Auch Johnny sah sich um, doch die Bucht war völlig verwaist.
Wieder ertönte ein lauter, grollender Donner.
»Bitte«, sagte der Bärenmann und winkte sie näher. »Kommt rein!« Er streckte die Hand aus.
Johnny reichte ihm die durchweichte Segeltuchtasche und wandte sich Clem zu, die reglos dastand, als wäre sie in der Kälte festgefroren.
»Ist schon gut, Kleine«, sagte der Mann, ergriff mit seiner Pranke ihre Hand, nahm ihr den Gebetsteppich ab und half ihr vorsichtig aufs Boot.
Sie sah ihn an. Mit einem Mal schien sie die Freundlichkeit des wildfremden Mannes zu überwältigen, und sie brach in Tränen aus.
»Los, kommt schnell rein«, befahl der Mann mit sanfter Stimme, trat mit dem Fuß die Cockpittür auf und schwang sich die triefende Segeltuchtasche über die Schulter. »Erst mal rein ins Warme.«
Johnny ging die Kombüsentreppe voran nach unten in die Kajüte und blieb stehen. Innerhalb von Sekunden hatte sich eine Pfütze um seine Füße gebildet. Eine Frau, bei der es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Meerjungfrau handelte, saß mit einer Gitarre auf dem Schoß auf der Backbordseite. Neben ihr hockte ein kleines Mädchen, das höchstens vier oder fünf Jahre alt sein konnte. Es war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, allerdings besaß es denselben dunklen Teint und die dunklen Haare wie sein Vater. Beide hatten denselben dichten Schrägpony, unter dem sie wortlos hervorlinsten und die beiden Fremden mit weit aufgerissenen Augen musterten. Mit feierlichem Ernst blickte das Mädchen von Johnny zu Clem und ihren blutenden, zerschrammten Beinen.
»Mommy, wieso weint die Frau?«, fragte die Kleine.
»Okay. Marsch ins Bett, Smudge«, sagte die Frau, stand auf und nahm das Mädchen bei der Hand.
Die Kleine entwand sich ihrem Griff und rannte zum Vorschiff, wo sie einen letzten Blick hinter der Tür hervor wagte, ehe sie sie langsam hinter sich schloss.
»Annie, hol den Verbandskasten«, sagte der Bärenmann mit sanfter Stimme und wandte sich Johnny zu.
»Sprecht ihr Englisch?«, fragte er.
»Wir sind Briten«, antwortete Johnny und nickte.
»Wurdet ihr überfallen?«
Johnny schüttelte den Kopf.
Der Mann nickte und trat an die Kombüsenspüle, um sich die Hände zu waschen. »Ihr solltet die nassen Sachen ausziehen …« Er beugte sich in die Koje neben dem Kartentisch und zog ein paar Handtücher heraus, dann trat er zu Clem und hob mit seinem riesigen Finger ihr Kinn an, um
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