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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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singen.«
    »Tatsächlich?«
    »Ich dachte, Sie seien wirklich ein Engel.«
    »Ich kann dir versichern, dass ich kein Engel bin«, gab die Frau zurück, während das Lächeln von ihren Zügen verschwand und sie leicht die Stirn runzelte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Näharbeit.
    »Aber du hast die Stimme eines Engels«, wandte der Bärenmann ein und sah seine Frau an, ohne sein Spiel zu unterbrechen.
    »Mag sein, aber ich bin ganz bestimmt keiner, oder?«, gab sie zurück, während ihre Augenwinkel wieder nach unten sackten. Sie griff nach ihrem Glas und kippte ihren restlichen Raki mit einem Zug herunter.
    »Wir sind übrigens Frank und Annie, und ihr könnt Du zu uns sagen«, erklärte der Bärenmann.
    »Johnny und Clem«, stellte Johnny sie vor und prostete ihnen zu.
    In diesem Augenblick erschütterte ein so lautes Donnergrollen die Luft, dass alle vier abrupt die Köpfe hoben.
    »Grundgütiger«, stieß der Mann hervor, als ein Blitz durch die Dunkelheit zuckte. Er stand auf, trat zur Kombüsenleiter und schob die Tür auf. Johnny glaubte ein leichtes Hinken zu bemerken. Er trug weite Bermudashorts, und seine kräftigen Beine waren mit dunklen Haaren bedeckt. Johnny bemerkte eine lange Narbe, die sich über die Innenseite seiner Wade zog. Er lehnte sich ins Cockpit hinaus und blickte zum Mast hinauf.
    Johnny wandte sich um und sah durch die Plexiglasscheibe nach draußen. Gleißend helle Blitze flammten über den Bergen auf und erhellten die Bucht. Er konnte mehrere andere Boote ausmachen, die Mehrzahl davon Fischerboote, die jedoch alle verwaist zu sein schienen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen – niemand suchte nach ihnen. Davon war Johnny fest überzeugt.
    »Ziemlich heftiger Sturm«, stellte der Bärenmann fest, schloss die Cockpittüren hinter sich und setzte sich wieder an den Tisch. Er nahm abermals seine Gitarre zur Hand, während seine Frau ihre Näharbeit fortsetzte. Eine angenehme, entspannte Atmosphäre senkte sich über den Raum. Es war eine echte Wohltat. Auf diese Weise konnte Johnny wenigstens die Wirkung des Rakis in Ruhe genießen: Er liebte die Art und Weise, wie der Alkohol seine Sinne mit köstlichem Anisnebel umwölkte. Er ließ den Blick durch die Kajüte schweifen. Die pragmatische Hässlichkeit und der frappierende Mangel an Eleganz von Charterbooten verblüfften ihn immer wieder aufs Neue – die schwimmende Funktionalität und Schlichtheit. Das gesamte Holzdekor sah aus, als sei es mit einem bestenfalls zwei Millimeter dicken Furnier belegt.
    »Macht ihr hier Ferien?«, fragte Johnny den Mann.
    »Ferien?«, wiederholte der Mann und hielt mitten in einem Akkord inne. »Nein, nein. Wir leben auf ihr. Die Little Utopia ist unser Zuhause.«
    »Oh.« Johnny bemühte sich eilig, seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bekommen und angemessen beeindruckt dreinzublicken. Er nahm noch einen Schluck Raki und spürte, wie seine Verlegenheit über den Fauxpas verebbte. Der Mann spielte weiter und sang mit tiefer, weicher Stimme dazu. Johnny hatte das Gefühl, dass er improvisierte und die Melodie erst beim Spielen erfand.
    »Clem«, sagte Annie, als höre sie den Namen zum allerersten Mal. »Wofür ist das die Abkürzung?«
    »Clemency«, antwortete Clem, »aber so nennt mich niemand.«
    »Wie Smudge. Ihr richtiger Name ist Imogen. Aber wir nennen sie auch nicht so.«
    »Woher stammt ihr?«, fragte der Bärenmann.
    »Aus London. Putney«, antwortete Johnny.
    »Wir sind vom anderen Ende der Stadt. Aus Kentish Town«, erklärte er.
    »Wie lange lebt ihr schon auf dem Boot?«
    Frank legte die Gitarre in den Schoß und ließ seinen Arm auf dem geschwungenen Korpus ruhen. Johnny fiel auf, wie glatt und sauber seine Hände für jemanden waren, der auf einem Boot lebte; seine eigenen waren schwielig und wiesen stets Schmutzränder auf, auch wenn er sie noch so heftig schrubbte, außerdem hatte dieser Kerl mindestens zwanzig Jahre mehr auf dem Buckel als er. Dann fiel sein Blick auf die fehlenden Fingerspitzen an Franks rechter Hand.
    »Fünf Jahre?«, antwortete Frank mit einem Seitenblick auf seine Frau.
    Sie nickte.
    »Seither fahren wir von Küste zu Küste«, fuhr er fort. »In Frankreich sind wir in See gestochen, und jetzt sind wir hier.«
    Das klang für Johnny wie der Himmel auf Erden – allerdings nur auf einem anständigen Boot und nicht auf einem Plastikkutter wie diesem.
    »Wenn es irgendwie ging, sind wir nie länger als eine Woche am selben Ort

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