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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Mädchen, das sich, Gilla fest in einer Hand, ebenso flink und mühelos bewegte wie seine Mutter. Die rote Jacke leuchtete in der Sonne, als sie den Hügel erklommen, wobei Gillas Pfote im Staub schleifte. Der Boden war hellorangefarben und erstaunlich fruchtbar – offenbar hatte der Sturm ganze Arbeit geleistet und alles anständig durchfeuchtet. Hunderte winziger Blumen blühten rings um sie, und winzige Vögel stoben aus dem Gebüsch auf. Eine Eidechse flitzte vor ihnen über den Pfad, die Smudge minutenlang vergeblich einzufangen versuchte.
    Inzwischen kam die Sonne vollends heraus. Der Dunst löste sich auf, während sich der Himmel in einem tiefen, satten Blau färbte. Auf halbem Weg blieben sie stehen, um einen Schluck Wasser zu trinken, und blickten auf das Boot mit den beiden winzigen Gestalten hinunter – die eine war so viel kleiner als die andere, dass es den Anschein hatte, als gehörten sie nicht einmal derselben Spezies an. Mittlerweile saßen sie ein Stück voneinander entfernt auf dem Deck, und Johnnys Laune hob sich augenblicklich.
    »Daddy!«, rief Smudge und winkte, doch weder er noch Clem sahen auf. Offenbar hatten sie den Kassettenrekorder eingeschaltet. Leise Musik wehte über das Wasser herüber, doch Johnny konnte nicht ausmachen, um welchen Song es sich handelte. Das Wasser rings um das Boot war türkisblau und so klar, dass er sogar die Ankerkette und die Felsen erkennen konnte, an der er sich festgehakt hatte.
    »Siehst du?« Johnny beugte sich zu Smudge hinunter, die neben ihm stand. »Keine Ungeheuer heute.«
    »Während des Tages verstecken sie sich«, erklärte sie sachlich und wandte sich ihm zu. »Hast du schon mal ein Ungeheuer gesehen, Johnny?«
    »Nein, ich nicht. Aber ich bin mal mit einem Mann gesegelt, der eines gesehen hat. Er war draußen auf dem Pazifik, Tausende Meilen vom Land entfernt. In einer dunklen, mondlosen Nacht saß er draußen und hielt Wache, als ihm plötzlich zwei leuchtende grüne Augen aus dem Wasser links und rechts vom Bug ansahen. Sie seien immer näher gekommen, meinte er, während das Ungeheuer aus dem Wasser gestiegen sei, immer höher und höher, den Mast hinauf bis ganz nach oben.«
    Smudges Augen wurden immer größer. »Und was hat es dann gemacht?«
    »Gar nichts. Das Ungeheuer hat ihn bloß angestarrt, dann ist es ganz langsam wieder verschwunden.«
    »Hat er es gefangen?«
    »Nein.«
    »Ich hätte es gefangen. Mit meinem Netz«, sagte sie, legte ihre kleine Hand in Johnnys und hielt sie ein ganz klein wenig fester umklammert als vorher.
    Annie hatte recht: An den Sträuchern hingen Beeren in Hülle und Fülle. Er bückte sich, um sie von den dünnen, dornigen Zweigen zu pflücken. Im Nu war seine Tasche gefüllt. Smudge blieb eine ganze Weile an seiner Seite und half ihm, auch wenn nur die eine oder andere zerdrückte Beere den Weg in die Tasche fand.
    »Heb dir ein paar fürs Mittagessen auf«, sagte Johnny zu ihr.
    »Aber ich esse sie doch gar nicht«, erklärte sie und blickte ihn mit dunkelviolett verschmiertem Kinn und Mund an.
    Er zerzauste ihr das ohnehin zerzauste Haar. Als sie sich satt gegessen hatte, verlor sie das Interesse und schlenderte ein bisschen herum, spielte und summte leise vor sich hin. Annie war den Hang ein Stück hinaufgegangen und pflückte mit raschen, routinierten Bewegungen.
    Winzige blaue Schmetterlinge umkreisten ihn. Einige setzten sich auf sein Hemd, weil sie ihn irrtümlich für eine Blüte hielten. Er sah ein paar Eidechsen und einer großen Spinne zu, die sich eilig vor ihnen in Sicherheit brachten. Dieses Fleckchen Erde war von Leben erfüllt. Innerhalb kürzester Zeit war seine Tasche prall mit Blaubeeren gefüllt. Mittlerweile hatte er seine Technik verfeinert und konnte gleich acht oder neun der dunklen Beeren auf einmal pflücken. Er mochte dieses Gefühl der Genügsamkeit, sich aus der Fülle bedienen zu dürfen, die das Land oder die See ihm boten. Es war eine befriedigende Art und Weise, sein Leben zu verbringen. Er sah es klar und deutlich vor sich: er und Clem an Bord ihres eigenen Boots, einer doppelendigen, mit Teakholz belegten Ketsche. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah zu Annie hinauf, die noch immer eifrig pflückte.
    »Johnny«, flüsterte eine kleine Stimme über die Sträucher hinweg.
    »Was ist denn?« Er trat zu Smudge, die im Gebüsch kauerte. Ihre Piratenjacke hatte sich in den Sträuchern verfangen und stand an den Ecken wie ein Zelt ab, sodass ihr nacktes Hinterteil

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