Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
entblößt war. Sie hielt etwas in den Händen. »Was hast du denn da?«
Sie öffnete ihre Hände, sodass die perfekteste Miniaturschildkröte zum Vorschein kam, die er je gesehen hatte. Im ersten Moment dachte er, sie sei aus Plastik, doch dann hob das Tier den Kopf und blickte ihn an. Er ging neben Smudge in die Knie. Die Schildkröte musste gerade erst geschlüpft sein. »Captain Hook«, flüsterte er ehrfürchtig. »Du hast einen Schatz gefunden!« Behutsam strich er mit dem Finger über den glatten, weichen Panzer. »Wo hast du die denn her?«
»Von da drüben. Da sind noch ganz viele!« Sie war sichtlich stolz auf ihre Klugheit.
»Zeig mal«, sagte er.
Sie sprang auf, zerrte so heftig an ihrer Jacke, dass sie prompt noch einige weitere Löcher bekam, und lief davon. Er folgte ihr durch die Sträucher und blieb nur gelegentlich kurz stehen, um sich an einem Mückenstich zu kratzen.
»Hier!«, rief sie und blieb unvermittelt stehen. Und siehe da – vor ihr trottete eine Schildkrötenmutter mit fünf Jungen durchs Gebüsch. Die Kleinen hatten sichtlich Mühe, ihr zu folgen, und mussten zehn Schritte machen, wo das Muttertier gerade einmal einen benötigte. Vorsichtig beugte Johnny sich vor, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Smudge trat neben ihn, legte den Arm um seinen Hals und lehnte sich gegen ihn. In der einen Hand hielt sie noch immer das Schildkrötenbaby, während sie ihm mit der anderen das Haar zerzauste, so wie er es zuvor bei ihr gemacht hatte. Sie roch nach Heidelbeeren und Seife. Schließlich ging sie ebenfalls in die Hocke und versuchte, der Babyschildkröte unter gemurmelten Ermutigungen eine Blaubeere ins Maul zu schieben. Sie war hinreißend, mit ihrer von Sommersprossen übersäten Himmelfahrtsnase, ihrer weichen Babyhaut, den dunkelvioletten Heidelbeerlippen und den riesigen dunklen Augen.
»Ich glaube, sie will sie nicht essen«, sagte Smudge und sah zu Johnny auf. »Trinken Schildkröten Milch?«
»Nein«, antwortete Johnny. »Sie gehören zu den Reptilien.«
»Und Orangina?«
»Auch nicht.«
»Können Schildkröten springen?«
»Nein.«
»Sie sieht aber aus, als könnte sie es.«
»Tut sie aber nicht.«
»Sie wird mein neues Haustier.«
»Du solltest sie lieber bei ihrer Mami lassen«, meinte Johnny.
»Nein«, erklärte sie, als wäre das eine ganz schlechte Idee. »Sie gehört mir. Ich hab ihr auch schon einen Namen gegeben.«
»So? Wie heißt sie denn?«
»Granny.«
»Granny?«
»Ja.«
»Das ist aber ein hübscher Name«, lobte Johnny und streichelte eine der anderen Schildkröten.
»Hast du denn eine Granny, Smudge?«, fragte er und setzte sich auf den Boden.
Sie schüttelte den Kopf. Dann nickte sie und zog nachdenklich die Nase kraus. »Na ja, doch, ich hab eine. Ich hab sogar schon mal mit ihr telefoniert. Aber sie kann uns nicht leiden.«
»Ich bin sicher, sie kann euch leiden.«
»Nein, kann sie nicht. Sie hat gesagt, meine Mummy sei eine dämliche Kuh und meinen Daddy sollte man einsperren und den Schlüssel wegwerfen.« Bei den letzten Worten hob sie die Stimme und sprach mit einem leicht irischen Akzent, dann bückte sie sich erneut, um der Schildkrötenmutter eine Blaubeere ins Maul zu schieben.
»So, brave Schildkröte«, murmelte sie, an ihre Handfläche gewandt. »Wir werden jetzt ein schönes Bad nehmen und eine Tasse Tee trinken.«
Johnny sah auf. Annie winkte ihnen zu und schwenkte die Wasserflasche. Er bedeutete ihr, zu ihnen herunterzukommen.
»Und was ist mit Cousins und Cousinen?«, fragte Johnny, doch wieder schüttelte Smudge den Kopf. »Und sonst auch keine Familie?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich wünsche mir einen großen Bruder, aber Mami will kein Baby mehr. Aber mein Daddy schon.« Sie sah ihn an und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. »Ich weiß, wie die Babys in Mamis Bauch kommen …«
»Sehr gut«, lobte Johnny und tat so, als wäre er völlig fasziniert von den Schildkröten.
Wenig später gesellte sich Annie mit einer Tasche voller Beeren zu ihnen. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und auf ihrer Haut schimmerte eine dünne Schweißschicht. Beim Anblick der Schildkröten erhellten sich ihre Züge.
»Na, so was!«, rief sie und ging in die Hocke.
»Ich hab sie gefunden«, erklärte Smudge voller Stolz.
»Sind die nicht süß? O Smudge, du bist mein kluges kleines Mädchen.«
»Die hier gehört mir. Sie ist mein Haustier.« Sie öffnete ihre Hand, um ihrer Mutter die winzige
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