Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Schildkröte zu zeigen.
»Nein, Schatz, die kannst du nicht behalten. Sie gehört zu ihrer Mami.«
»Nein!«
»Na gut, eine Weile darfst du dich noch um sie kümmern«, lenkte Annie ein.
»Sie könnte doch mein Geburtstagsgeschenk sein«, schlug Smudge vor, als wäre dies die perfekte Lösung.
Annie drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Hier, trink«, sagte sie und hielt ihr die Wasserflasche vor die Lippen. Smudge nahm einen Schluck, dann goss sie ein paar Tropfen in ihre Handfläche für Granny, die brav den Kopf senkte und trank.
Noch eine Weile beobachteten sie die Schildkröten, dann zogen Annie und Johnny sich in den Schatten eines Olivenbaums zurück. Schulter an Schulter saßen sie gegen den Baumstamm gelehnt, während die Kakofonie der Grillen für einen Moment verstummte. Annie hielt Johnny die Wasserflasche hin. »Nach dir«, sagte er und sah zu, wie sie gierig ein paar Schlucke trank, ehe sie ihm die Flasche reichte.
Die Aussicht war herrlich. Von hier aus konnten sie lediglich die Mastspitze der Little Utopia sehen, die leicht hin und her schwankte wie das Pendel eines Metronoms. Das Wasser war ein Flickenteppich aus Türkis- und Grüntönen. Ein Stück weiter draußen, wo die See ein tiefes Blau besaß, machte Johnny ein Boot mit gesetzten Segeln aus. Das weiße Dreieck schien recht zügig dahinzusegeln, was auf eine stramme Brise schließen ließ. Johnny wünschte sich, an Bord dieses Schiffes zu sein. Er schloss die Augen und lauschte den Grillen. In der Ferne hörte er Smudges melodiöse Stimme, als sie den Schildkröten selbst erfundene Lieder vorsang. Er trank noch einen Schluck Wasser und beobachtete mit einem Auge die blauen Schmetterlinge, die ihn dutzendweise umschwirrten. Als er sich den Schweiß von der Stirn wischte, streifte er versehentlich Annies Arm.
»Wann hat Smudge denn Geburtstag?«, fragte er.
Annie, die offenbar gedöst hatte, schlug die Augen auf. »In drei Tagen.«
»Sie hat gesagt, sie werde fünf.«
Lächelnd schloss Annie erneut die Augen, und Johnny sah das Lächeln verschwinden, wie zerfließendes Wachs, während die Traurigkeit abermals die Oberhand gewann. Das Leben musste ihr irgendwann eine herbe Enttäuschung zugefügt haben. Er fragte sich, wie so etwas vonstattengehen mochte, ob es unvermittelt oder auf eine heimtückische Weise geschah. Sie schlug die Augen wieder auf, und Johnny wandte eilig den Blick ab.
»Du musst mich für eine Rabenmutter halten«, sagte sie. »Eine erbärmliche alte Säuferin.«
»Natürlich nicht«, widersprach er und setzte sich auf. »Außerdem kenne ich dich doch überhaupt nicht.«
»Stimmt«, sagte sie leise, legte ihre Hand auf seine und tätschelte sie behutsam. »Du kennst mich nicht.«
Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand, schraubte sie auf und nahm einen Schluck. Er blickte in die Richtung, wo Smudge spielte. Er konnte sie zwar nicht sehen, doch ihr leises Summen wehte zu ihnen herüber.
»Er hat mich gerettet«, sagte Annie. Sie hatte in die Ferne geblickt, doch nun wandte sie sich ihm zu. »Was auch immer Frank sonst getan haben mag, mich hat er jedenfalls gerettet.«
Verwirrt fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. »Wovor denn?«
Sie lächelte und schüttelte den Kopf, als wäre ihr gerade klar geworden, wie idiotisch es war zu glauben, er könne sie verstehen. »Vor mir selbst«, sagte sie.
Nun war Johnny derjenige, der sich wie ein Idiot vorkam, weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon sie sprach. »Tja, er scheint ein sehr außergewöhnlicher Mann zu sein, dein Frank«, bemerkte er.
»Ja, das ist er«, bestätigte sie mit derselben tonlosen Stimme wie zuvor.
Eine Weile saßen sie schweigend da.
»Ich könnte ihn niemals verlassen. Niemals.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Johnny verwirrt. »Weshalb solltest du auch?«
Sie gab einen Laut von sich, der wie ein Lachen klang, ihr jedoch im Halse stecken blieb. »Ich bin kein schlechter Mensch, Johnny.«
Er hatte den Eindruck, dass sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, wusste jedoch nicht, wie er damit umgehen sollte. »Natürlich nicht.«
Wieder wandte sie den Blick ab und blickte, ebenso wie er, aufs Meer hinaus. Er wollte ihr helfen, sie ein wenig aufmuntern, diese Melancholie verjagen, deren Ursache er nicht erahnen konnte. Er zog seinen Tabak aus der Tasche und drehte sich eine Zigarette, die er anzündete und ihr reichte.
»Danke«, sagte sie, gerührt über diese Geste.
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, als er sich eine
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