Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
düstere Gedanken an die Oberfläche steigen zu lassen, wie Blasen aus einem tiefen Gewässer.
    Eine Weile saßen sie schweigend da. Sie sah einen Vogel über ihnen vorbeifliegen. Frank beugte sich herüber, um nach einer Zigarette zu greifen. Ihr Blick fiel auf seinen Rücken. Über die gesamte Länge zog sich eine glatte Narbe, die in der Sonne schimmerte. Sein rechtes Schulterblatt wies mehrere wellenförmige Vertiefungen auf, als wären Teile davon herausgeschnitten worden. Sie fand die Verstümmelungen eigentümlich schön; in gewisser Weise hoben sie seine Einzigartigkeit hervor. Sie verspürte das Bedürfnis, sie zu berühren.
    »Nicht besonders hübsch, was?«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Er musste ihren Blick bemerkt haben.
    Verlegen sah Clem weg.
    »Aber ich kann von Glück sagen, dass ich überhaupt noch lebe«, fuhr er fort. Er streckte die Beine aus. Sie betrachtete die lange Narbe an seiner Wade. »Ich habe sechs Monate im Hotel KV verbracht.«
    Sie hatte immer ein wenig Mühe zu erkennen, wann er scherzte und wann nicht. Deshalb überlegte sie einen Moment lang, weshalb er sich für so lange Zeit in einem Hotel einquartieren sollte. Schließlich fiel der Groschen – Hotel Krankenversicherung. »Du hast sechs Monate im Krankenhaus gelegen? Das ist ja grauenhaft«, sagte sie.
    »Na ja, rückblickend betrachtet, war es gar nicht so übel.« Er griff nach seiner Tasse und nippte daran. »Ich hatte endlich Zeit für all die Bücher, die ich schon seit Jahren lesen wollte.«
    Sie schlug eine Fliege weg, die um ihren Kopf summte. Sie war nie eine Leseratte gewesen, sondern hatte lieber ihre Zeit damit verbracht, die Dinge in Angriff zu nehmen. Erst vor Kurzem hatte sie Bücher für sich entdeckt. »Zum Beispiel?«
    »All die Klassiker. Ovid, Hermes, Ficino. Die ganzen Philosophen.«
    Keiner dieser Namen sagte ihr etwas, doch sie hoffte, dass er es nicht merken würde. Sie wünschte, sie wäre ein klein wenig belesener. Erst allmählich ging ihr auf, wie ungebildet sie in Wahrheit war. »Hast du Philosophie studiert, Frank?«
    »Nein, zumindest nicht offiziell.«
    »Ich würde auch gern Philosophie studieren. Es wäre schön, etwas mehr zu lesen. Ich habe den Eindruck, als hätte ich in dieser Hinsicht Nachholbedarf.«
    Er zog seine Angel ein Stück weiter heran und verlagerte das Gewicht. »Was würdest du denn gern wissen?«
    »Ich will …« Ich will so sein wie du, mich so gut auskennen wie du, hätte sie am liebsten geantwortet. »Schätzungsweise würde ich einfach gern nach der Wahrheit hinter allem suchen.«
    »Ah! Die Wahrheit!« Er drehte sich um und lächelte sie an. Wieder war es schwer zu beurteilen, ob er sich über sie lustig machte oder nicht. »Du bist also auf der Suche nach Wissen …«
    »Ja«, gab sie vorsichtig zurück, doch er machte keine Anstalten, fortzufahren. »Wo sollte ich deiner Meinung nach anfangen?«
    »Wenn du nach den Antworten suchst, wäre es wohl am besten, erst einmal die richtigen Fragen zu stellen.«
    Schlagartig war ihr Gehirn wie leer gefegt, keine einzige Frage fiel ihr ein.
    »Ich meine nicht jetzt gleich, Clem.« Er sah sie so liebevoll an, dass es ihr nichts ausmachte, wenn er sie auslachte.
    »Johnny und ich wollen nach Indien. Vielleicht könnte ich ja in einen Aschram gehen.« Er gab keinerlei Kommentar dazu ab. »Und vielleicht einen Guru finden«, fügte sie hinzu, obwohl sie nicht einmal genau wusste, was ein Guru überhaupt machte. Aber Rob hatte einen kennengelernt und in den höchsten Tönen von ihm geschwärmt.
    »Du brauchst keinen Guru, Clem. Du bist diejenige, die Antworten auf die Fragen finden muss, die dich beschäftigen. Das ist ja das Schöne im Leben.« Er zwinkerte ihr zu, dann wandten sie sich wieder dem Angeln zu.
    »Hast du schon mal von Krishnamurti gehört?«
    Sie tat so, als läute es beim Klang dieses Namens vage. »Sollte ich etwas von ihm gelesen haben?«
    Er legte seinen Arm auf die Reling. »Er war ein großartiger Mann, ein wirklich außergewöhnlicher Denker.« Er lächelte, und Clem fragte sich, ob die beiden wohl Freunde gewesen waren, worüber sie geredet und diskutiert haben mochten.
    »Wo auch immer er gesprochen hat, wollten die Leute mehr erfahren. Sie haben ihn mit Fragen bombardiert, bis er eine riesige Gefolgschaft um sich geschart hatte. Eines Tages erklärte er vor dreitausend seiner eingefleischtesten Anhänger, dass es das gewesen sei. Sie sollten sich verziehen und endlich anfangen, sich um ihren eigenen Kram

Weitere Kostenlose Bücher