Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
meine Prinzipien«, erwiderte Frank, wenngleich mit einem leisen Funkeln in den Augen.
»Du bist echt Wahnsinn, Frank.«
Frank bot ihm eine Zigarette an. Johnny nahm sie, wenn auch mit leicht zitternder Hand, entgegen.
»Um man selbst sein zu können, muss man frei sein, Johnny. So ist nun mal das Leben. Alles andere ist sinnlos.«
»Aber du wirst doch Clem nichts sagen, oder?« Johnny sah ihn an und beugte sich vor, als Frank ihm Feuer gab. Im Schein der Flamme wirkte sein Gesicht dunkel und zerfurcht.
»Wenn du es nicht willst, nein.«
»Wird Annie es Clem erzählen?«
»Wovor hast du denn solche Angst?«, fragte Frank und ließ die Flamme erlöschen, sodass seine Züge in der Dunkelheit versanken. »Ich dachte, Angst und Erregung seien praktisch ein und dasselbe«, bemerkte er grinsend und zerzauste Johnny das Haar, als wäre er ein naiver Schuljunge.
Einen Moment lang verfiel er in Schweigen, dann beugte er sich wieder vor. »Für die Angst ist in der Liebe kein Platz, Johnny.«
Johnny starrte ihn an, wünschte sich, zu verstehen. Manchmal gab Frank ihm das Gefühl, als hätte er sein ganzes Leben lang auf dem Kopf gestanden und die Welt aus der verkehrten Perspektive betrachtet.
»Genau das musst du begreifen!« Ganz langsam pochte er ihm mit den Fingerknöcheln gegen die Schläfe. »Du musst anfangen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.«
Genau das wollte Johnny. Er wollte die Welt genau so sehen wie Frank, aus seinem Blickwinkel. »Angst haben wir nur vor dem, was wir nicht kennen, Johnny. Das ist alles.«
Johnny nickte. Das klang einleuchtend.
»Willst du wissen, wie du dich von der Angst befreien kannst?«, flüsterte Frank, während er erneut lächelte.
»Ja, sag es mir.«
»Indem du die Ungewissheit ganz einfach willkommen heißt.«
Johnny lauschte verunsichert.
Frank schlug die Beine übereinander und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wieso hast du solche Angst davor, dass Clem davon erfahren könnte?«, fragte er, obwohl er offenkundig keine Antwort von Johnny erwartete. »Was bereitet dir solche Sorgen? Irgendein Schwachsinn, den du dir selbst ausgedacht hast … Glaubenssätze wie, du könntest sie damit verletzen oder sie verärgern. Also lügst du. Oder du sagst zumindest nicht die Wahrheit. Du willst sie schützen. So ist es doch, oder?«, fuhr er mit leiser Stimme fort, während die Mädchen unten weiter tanzten.
Johnny nickte.
»Tja, das ist alles wunderbar, Johnny, aber früher oder später wirst du begreifen, dass es nur eine einzige Lebensform gibt, in der es sich zu leben lohnt – ein freies Leben. Ein Leben ohne Lügen, Halbwahrheiten, Zensur und Missverständnisse. Du hast Annie angefasst, weil du es wolltest. Daran ist doch nichts Schlimmes.«
»Nein?«, fragte Johnny, der ziemlich sicher war, dass Frank damit auf dem Holzweg war.
»Nein.«
»Aber es würde Clem sehr verletzen.«
»Das stimmt«, bestätigte Frank mit leuchtenden Augen. »Weil ihr beide im Moment noch im Gefängnis eurer einstigen Konditionierungen lebt … mit den alten Denkstrukturen und Werten. Aber solange das so bleibt, kann keine Weiterentwicklung stattfinden, sondern nur Stagnation und Verfall. Du musst dich weiterentwickeln, Johnny.« Aus seinem Mund klang dieses Wort wie die wunderbarste Sache der Welt. »Wahre Liebe kennt keine Grenzen«, fügte er hinzu. »Keine Beschränkungen.«
Johnny blickte Frank in die Augen. Er spürte, wie etwas in seinem Inneren aufflackerte, ein flüchtiger Ausblick darauf, wie das Leben sein könnte, eine Absolution der dunkleren Begierde, die in den Tiefen seines Herzens schlummerte. Mit einem Mal glaubte er das Potenzial all dessen zu erahnen, was sich ihm eröffnen könnte. Er wollte sich weiterentwickeln. Das musste doch der Sinn des Lebens sein – sofern es überhaupt einen gab. Für den Menschen als Spezies musste die Weiterentwicklung an oberster Stelle stehen.
»Eines kann ich dir versichern«, fuhr Frank lächelnd fort und entblößte dabei seine strahlend weißen Zähne. »Sobald du die Ungewissheit mit offenen Armen akzeptierst und dich mit vollem Herzen ins Unbekannte stürzt, ist das Leben reine Magie. Es ist der Hammer, und zwar nicht nur an manchen Tagen, sondern jeden Tag.«
In diesem Moment erschien Annie auf dem Niedergang und streckte Frank zwei Gläser entgegen. »Hey, ihr beiden. Los, schenk mal ein.« Sie hatte geduscht, und ihr Haar duftete und glänzte.
Frank zog den Korken aus der Flasche und schenkte Wein ein.
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