Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
»Los, kommt nach oben«, sagte er. »Hier geht eine Sternschnuppe nach der anderen nieder. Das ist die Gelegenheit, dass all eure Wünsche in Erfüllung gehen.«
»Schläft Smudge?«, fragte Johnny. Ihm fiel auf, dass er Annie inzwischen wieder ohne Hemmungen in die Augen sehen konnte.
»Endlich«, antwortete sie. »Ich muss allerdings Granny noch in ihren Käfig setzen. Im Moment schläft sie neben ihr auf dem Kopfkissen.«
Sie sah zum Himmel hinauf und kniff die Augen zusammen, um ihren Wunsch zu formulieren. »Frische Eier für Dienstag, bitte«, sagte sie und schlug sie wieder auf. »Wir haben uns gerade Rezepte für einen Geburtstagskuchen angesehen.« Sie drehte sich um. »Mach das Licht aus, Clem, und gib mir bitte die Gitarre.«
Clem und Annie traten im Dunkeln aus der Kajüte und setzten sich gegenüber von Johnny aufs Deck. Die Glut ihrer Zigaretten und die Sterne waren die einzige Lichtquelle. Annie begann ein Stück von Fleetwood Mac zu singen, das in ihrer Interpretation jedoch völlig anders klang. Clem saß dicht neben Frank, hatte die Beine auf Annies Schoß gelegt und ließ sich nach hinten sinken. Sie lauschten Annies Version von Songbird , während die Meteoriten über das Firmament jagten. Johnny durchströmte ein unbändiges Gefühl des Glücks und der Freude, am Leben zu sein. Genau das, jetzt, in diesem Moment, das ist Magie , dachte er. In diesem Augenblick begriff er sie – die Macht der Ungewissheit, die wahre Freiheit, und es fühlte sich an wie Liebe. Er war völlig betrunken, aber das spielte keine Rolle.
Wie gewohnt entführte Annies Stimme sie, und sie folgten ihr bereitwillig, überallhin, wohin sie sie trug. Irgendwann griff Johnny nach der Weinflasche, um Frank nachzuschenken. Er war betrunkener, als er angenommen hatte. Prompt entglitt ihm die leere Flasche. Annie versuchte, sie mit dem Fuß zu stoppen, doch sie schlitterte quer über das Deck, wo sie in der Dunkelheit auf dem Cockpitboden kreiselte.
»O ja«, rief Annie, löste die Finger von den Saiten und ließ das Kinn auf die Gitarre sinken. »Flaschendrehen …« Sie hob die Brauen und sah die anderen an. »Wer darf mich wohl gleich küssen?«
Alle lachten, doch dann beugte sich einer nach dem anderen gespannt vor. Schweigend sahen sie zu, bis die Flasche zum Stillstand kam. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern. Wieder und wieder blitzte das Glas in der Finsternis auf. Kurz überlegte Johnny, einfach aufzustehen und sie zu küssen. Er dachte daran, wie er sich oben auf dem Hügel danach gesehnt hatte, ihre Lippen zu berühren, das Gesicht zwischen ihren Brüsten zu vergraben – mit dem Unterschied, dass er nun kein schlechtes Gewissen mehr deswegen hatte. Er hatte einfach losgelassen, all die Beschränkungen über Bord geworfen. Er würde sich nicht länger diesen Denkmustern unterwerfen. Die Flasche drehte sich immer langsamer, eine Runde um die andere, während seine Hoffnungen zusehends schwanden. Stürze dich ins Unbekannte . Die Flasche stoppte bei Clem.
Erschrocken wich Clem zurück. »Oh«, stieß sie verblüfft hervor. »Ich.«
Sie blickte Johnny an. Er sah die Erwartung in ihren Augen – er sollte ihr sagen, was sie tun sollte. Lächelnd zuckte er mit den Achseln und gab sein Einverständnis, doch Annie hatte bereits einen Finger unter Clems Kinn gelegt und ihr Gesicht zu sich gedreht. Sie beugte sich vor und küsste sie behutsam auf den Mund. Clem war die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Noch nie war sie von einer Frau geküsst worden. Doch nach ein, zwei Sekunden bemerkte er, dass sie keine Anstalten machte, sich von Annie zu lösen. Annie küsste sie noch einmal, so zärtlich, dass Johnny förmlich die Weichheit ihrer Lippen spüren konnte. Dann küssten sie sich richtig, ein tiefer, leidenschaftlicher Kuss. Er wurde so hart, dass er demnächst seine Jeans öffnen müsste, wenn es so weiterging. Frank lehnte sich zurück und legte die Arme über den Querbalken, doch es war zu dunkel, um seine Miene zu erkennen.
»Jetzt du«, flüsterte Annie, als sie sich schließlich von ihr löste.
Clem war ein wenig atemlos, ihre Lippen leicht geöffnet und feucht. Sie war scharf, genauso wie Johnny. Wie sie alle. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke, dann bückte sie sich und drehte die Flasche. Sie sahen zu, wie sie kreiselte, ein dunkler Wirbel auf dem Cockpitboden. Sie prallte gegen den Sitz und kam abrupt zum Stehen. Ihr Hals zeigte zu dem Eimer, der am Heck festgebunden war.
Weitere Kostenlose Bücher