Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Sie kletterte über den Ganghebel hinweg auf seinen Schoß und legte vorsichtig die Hände ums Steuer. Er ließ los und hob die Hände. »Sie gehört dir ganz allein. Etwas nach links! So ist es gut, Clembo. Jetzt geradeaus! Vorsicht, Kurve …« Er schaltete einen Gang herunter, sodass sie kurz auf seinem Knie wippte, und spähte über das Lenkrad hinweg. »Da vorn nach rechts. Los, und jetzt hupen!« Sie fuhr seine Cortina, seinen ganzen Stolz, gute zehn Minuten lang ganz allein. Nur die Pedale musste ihr Vater bedienen.
Als sie das Hotel erreichten, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Clemmie, die eingeschlafen war, schlug die Augen auf und war völlig überrascht, an der Küste zu sein. Sie parkten auf der Rückseite des Hotels und trugen ihr Gepäck zum Vordereingang. Vorsichtig navigierte Clemmie in ihren hübschen Schuhen um den weißen Möwenkot auf den Stufen herum.
Ein alter Mann, der ihren Vater gut zu kennen schien, nahm sie in Empfang. »Hallo, Jim«, begrüßte er ihn. »Und wer ist diese hübsche junge Dame?« Einen Moment lang fragte sie sich, wen er meinte, doch dann antwortete ihr Vater: »Das ist meine Tochter, Harry. Das tollste, klügste, junge Turn-As der nördlichen Hemisphäre.« Sie spürte, wie sie vor Stolz fast platzte, und versuchte, nicht wie eine Klugscheißerin dreinzusehen – niemand mag Klugscheißer , sagte ihre Mutter immer. Trotzdem konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so erwachsen gefühlt. Vielleicht lag es ja an ihrer roten Strumpfhose und den klappernden Absätzen.
Der alte Mann wollte ihr den Koffer abnehmen, doch sie hielt ihn fest. Er schob sie vor sich her durch die Lobby. An der hohen, gewölbten Decke über ihnen hing ein riesiger Kronleuchter. Links von ihnen befand sich eine Bar. Drei Frauen saßen nebeneinander auf ihren Hockern und tranken Cocktails aus dreieckigen Gläsern. Sie trugen alle Pelzmäntel, obwohl es eigentlich gar nicht kalt war. Ihr Vater begrüßte sie, als sie an der Rezeption eincheckten. Das war eine Gewohnheit von ihm, zu allen Leuten Hallo zu sagen, und es gefiel Clemmie, wie sich die Frauen umdrehten und sie ansahen, als wäre sie der größte Glückspilz auf der Welt, was sie wohl auch war.
In ihrem Zimmer standen zwei breite Doppelbetten, auf die ihr Vater die Koffer wuchtete. Er packte seine Sachen aus, während Clemmie auf dem Bett neben dem Fenster herumhüpfte. Als Nächstes klappte er ihren Koffer auf. Es stellte sich heraus, dass sie vergessen hatte, das Notwendigste einzupacken. Sie hatte darauf bestanden, ihren Koffer selbst zu packen. Aber an die wirklich wichtigen Sachen hatte sie gedacht: ihre Rollschuhe, ihre Spielfiguren und ein paar Schachteln zum Sammeln von irgendwelchen Sachen, die sie fand. Dafür hatte sie weder ein Nachthemd noch eine Zahnbürste oder frische Sachen zum Wechseln eingepackt.
Ihr Vater ging ins Badezimmer, um sich zu rasieren, während sie weiter auf dem Bett herumhüpfte. Er hatte sein Hemd ausgezogen, sorgfältig zusammengelegt und über den Klodeckel gehängt. Was seine Kleider anging, war er ziemlich pingelig. Nun stand er vor dem Spiegel. Mit seinem Rasierschaumbart sah er wie der Weihnachtsmann aus, außerdem musste er den Mund beim Sprechen verziehen, um sich nicht versehentlich zu schneiden.
»Wohin willst du als Erstes? Worauf hast du Lust? Auf einen Spaziergang am Meer?«
»Eiscreme«, antwortete sie und probierte einen Purzelbaum.
»Gute Idee. Ein Eis am Strand.«
»Jipppieh!« Sie probierte es noch einmal. Diesmal klappte es. »Kriege ich zwei?«
»So viele, wie du willst.«
»Sechs?«
»Du bekommst so viel Eis, wie du willst, Clemence Bailey.«
Sie drehte sich im Kreis, immer schneller, immer schneller.
Die Wellen schwappten ans Ufer, als sie mit ihren Eistüten in der Hand am Strand entlangschlenderten. Er schimpfte nicht, als sie eine Welle falsch einschätzte und prompt ihre Schuhe klitschnass wurden. Es sei nicht so schlimm, meinte er – sie könnten sie später im Zimmer mit dem Hotelföhn trocknen. Sie suchten nach außergewöhnlich geformten Kieselsteinen, die sie in ihre Schachtel legten. Ohne ihre Mutter war es so viel stiller. Nicht dieses ständige Lachen und Plappern, sondern nur das Wasser, Eiscreme und das Meer, auf das man endlos lange hinausblicken konnte. Mit ihrer Mutter wäre all das nicht möglich gewesen.
Clemmie schleckte ihr Himbeereis und sah ihren Vater an, der gedankenverloren und mit hängenden
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