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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Mundwinkeln wie ein auf dem Kopf stehendes Smiley zum Himmel hinaufblickte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich geirrt hatte. Sie hatte geglaubt, dies sei der schönste Tag seines und ihres Lebens, dabei empfand nur sie es so. Sie spürte, dass er lieber woanders wäre, mit jemand anderem zusammen. Mit ihrer Mutter. In diesem Moment hasste sie ihre Mutter. Sie hasste sie dafür, dass sie immer so lustig war, dass ihr Jim Baileys ganze Liebe gehörte und sie seine Aufmerksamkeit stahl, die in Wahrheit ihr gehörte. Sie durchforstete ihr Gehirn nach irgendetwas Interessantem, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    »Wusstest du eigentlich, dass ein Niesen mit dreihundert Meilen pro Stunde durch die Nase rast?«
    »Nein.« Er löste den Blick vom Horizont und richtete ihn auf Clemmie. »Nein, wusste ich nicht.«
    »Ist aber so. Sarahs Bruder Johnny hat es mir erzählt.«
    »Tatsächlich.«
    »Ja. Und Sarahs Brüder haben Raketenpopos. Wenn sie wollen, kommt bei ihnen hinten Feuer heraus.«
    »Klingt ja reizend.« Er zog seine Zigarrendose heraus. Sie wusste, dass er sie ihr schenken würde, wenn sie leer war, und fragte sich, wie viele noch drin sein mochten.
    »Ja. Ich hätte gern einen gut aussehenden, großen Bruder. Die Loves haben einen Schuppen im Garten, wo es immer nach Zigaretten riecht. Und einen Billardtisch und eine Dartscheibe gibt es auch. Johnny ist bei hundertachtzig «, erklärte sie im selben übermütigen Singsang wie Rob und Sarah, als sie ihr davon erzählt hatten. Sie erinnerte sich noch genau, wie ausgeschlossen sie sich gefühlt hatte, als die beiden sich vor Lachen ausgeschüttet hatten. »Können wir nicht auch einen Billardtisch und eine Dartscheibe kaufen? Johnny sagt, man kriegt sie überall.«
    »Da ist wohl jemand ein klein bisschen verknallt in diesen Johnny«, neckte er und stieß sie an.
    »Nein, bin ich nicht.« So hatte sie das nicht gemeint. Daddy machte alles kaputt. Johnny war nur ein großer Bruder. Mehr nicht. Sie wünschte, sie hätte den Mund gehalten.
    Inzwischen hatten sie die Uferpromenade erreicht und gingen an den dunklen, von Möwenscheiße übersäten Häusern vorbei.
    »Sieh nur!«, rief er aus und zeigte auf die funkelnden Lichter eines Jahrmarkts, die sich verführerisch vom malvenfarbenen Abendhimmel abhoben.
    Schlagartig waren seine Sticheleien vergessen. Sie packte seine Hand und zog ihn mit sich, dem herrlichen Duft nach kandierten Äpfeln und Zuckerwatte, der Musik und den kreischenden Schreien entgegen, die aus der Ferne herüberwehten.
    Dann standen sie mitten im Trubel: das Riesenrad, die Schiffschaukel, der Autoscooter, zahllose Kinder, riesige Typen mit tätowierten Armen, überall Abfälle auf dem Boden, Stände mit Schoko-Äpfeln. Eine dicke Frau in Stiefeln und mit toupiertem Haar stand vor einer kleinen Hütte mit aufgemalten Vorhängen und einem Schild mit verschnörkelten Buchstaben – WAHRSAGERIN – und beäugte ihren Vater. »Hallo, schöner Mann, soll ich Ihnen die Zukunft voraussagen?«, fragte sie. In ihrem Mundwinkel klemmte eine Zigarette wie bei einem Filmstar, und ihre Stimme war so tief wie die eines Mannes.
    Aufgeregt drückte Clemmie die Hand ihres Vaters. »Oh, bitte, Daddy!«, bettelte sie. »Ich will meine Zukunft wissen!« Sie war ganz verrückt nach allem, was mit der Zukunft und solchen Dingen zu tun hatte.
    Also folgten sie der Frau in die Hütte und quetschten sich an einen kleinen Tisch mit einem Körbchen darunter, in dem ein Hund lag. Er blinzelte schläfrig, knurrte jedoch böse, als Clemmie die Hand nach ihm ausstreckte. Bevor sie loslegte, verlangte die Wahrsagerin ihr Geld. Sie machte keine Anstalten, die Asche von ihrer Zigarette zu schnippen. Prompt landete sie Augenblicke später auf der Spitzentischdecke vor ihnen. Dann setzte sie eine Lesebrille auf – nicht besonders nach Zigeunerart –, bat Clemmie, ihre Hand vorzustrecken, und beugte sich darüber. Sie roch genauso wie der Pfarrer zu Weihnachten, nachdem er vom Blut Christi getrunken hatte.
    Clemmie gehorchte.
    Die Frau ergriff sie, drehte sie hin und her und beäugte sie mit zusammengekniffenen Augen – was allerdings auch an der Zigarette liegen konnte, die immer noch in ihrem Mundwinkel klemmte. »Ich sehe einen jungen, gut aussehenden Prinzen … viele Kinder …«
    Hingerissen starrte Clemmie sie an. Ihr Vater lachte. »Immer schön langsam mit den jungen Pferden«, sagte er. »Sie ist gerade einmal acht.«
    Die Frau warf ihm einen kurzen

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