Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
würde aus der Tasse fliegen, in Teile zerfetzt, von den Eisenstangen zerquetscht werden.
Trotzdem flitzte die Tasse immer schneller herum, und als sie abrupt die Richtung änderte, spürte Clemmie, wie sie herausgerissen wurde. Wie ein Blitz segelte sie unter der Stange hindurch. Trotzdem ließ sie nicht los. Sie blickte nach oben, zur Decke des roten Zelts, umklammerte die Stange mit all ihrer Kraft, während ihre braunen Schuhe unkontrolliert gegen das Blech schlugen. Sie hörte ihren Vater schreien und fluchen, dann spürte sie seine Hand um ihren Arm. Er kämpfte darum, sie in die Tasse zu ziehen, doch es gelang ihm nicht, da sie in diesem Moment abrupt die Richtung wechselte.
»Haltet das verdammte Scheißding an!«, brüllte er. Sie hatte noch nie so schlimme Worte aus seinem Mund gehört und war heilfroh, dass er endlich begriffen hatte, weshalb sie wie am Spieß schrie. Sie war kein Angsthase. Er hielt sich mit einer Hand an der Tasse fest, mit der anderen umklammerte er ihren Arm. Als sie den Kopf hob, sah sie die Panik in seinen Augen.
»Ich hab dich, Clemmie! Ich hab dich! Ich lasse dich nicht los!«, rief er. »Niemals.«
Und sie hatte ihm geglaubt.
5 im nachhall der ereignisse
Es herrschte kaum Wind. Das Segel flappte schlaff hin und her. Immer wieder wehte eine warme Brise von Norden herüber, und die Little Utopia nahm etwas Fahrt auf; genug, dass Johnny überlegte, den Spinnaker zu setzen, doch sobald er sich an die Arbeit machen wollte, verebbte die Brise und zwang ihn, das Segel wieder durch die Lasche zu stopfen. Sie schipperten mit gerade einmal drei Knoten dahin. Es war, als hätte sich eine tiefe Trägheit über sie gesenkt. Von Zeit zu Zeit sirrte ein Insekt vorbei, oder ein Vogel flatterte müßig über ihre Köpfe hinweg, ansonsten schien alles in der glühenden Hitze und der Windstille erstarrt zu sein. Frank hatte gemeint, es sei klüger, den letzten Rest Diesel aufzusparen, um abends die Buchten anzufahren und morgens wieder zu verlassen.
Clem lag auf dem Deck und genoss die warme Sonne auf ihrer Haut. Sie hatte die Füße auf den Baum gelegt, vorgeblich, damit er nicht ständig hin- und herschlug, in Wahrheit jedoch nur um ihrer eigenen Bequemlichkeit willen. Ihre Hüften und Zehen bewegten sich kaum merklich im Takt zu einem Stevie-Wonder-Song, der aus der offenen Kabinenluke drang. Ihre Gedanken kreisten um das, was gestern Abend vorgefallen war. Bilder flammten auf und vermischten sich mit unterschiedlichsten Empfindungen. Sie spürte noch das Nachbeben ihrer Erregung, und ihr Gesicht war rau und wund von Franks Bart. Sie hatte noch nie einen bärtigen Mann geküsst. Anfangs hatte es sich seltsam angefühlt, irgendwie höhlenmenschartig nach der bemerkenswerten Weichheit von Annies Lippen. Es war auch ihr erster Kuss mit einer Frau gewesen. Johnny war der Einzige, mit dem sie jemals zusammen gewesen war. Sie war noch nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt zu Frank hingezogen fühlte, zumindest jedoch nicht auf dieselbe Weise wie zu Johnny. Er war so viel älter und kräftiger, ein Mann, kein Junge. Und doch bestand eine Verbindung zwischen ihnen, die sie unglaublich erregt und die dem sexuellen Akt eine Tiefe verliehen hatte, die weit über die körperliche Attraktivität hinausging. Allein der Gedanke daran erregte sie aufs Neue.
Johnny beobachtete sie. Seine Gedanken überschlugen sich – sie waren das Einzige, was in der endlosen, omnipräsenten Stille in Bewegung war. Er hatte Kopfschmerzen. Clem war nackt, bis auf die Herzkette um ihren Hals. Sie hatte sich den Daumen in den Mund geschoben, während ihre rechte Hand müßig die Erregbarkeit ihres Körpers erkundete. Ihre Hotspots, wie sie sie nannte. Wie zwei kleine Vögel bewegten sich ihre Hände – die Linke hielt die Stellung, während die andere auf Wanderschaft ging und wenig später zurückkehrte. Solange sie angezogen war, beschränkten sich ihre Berührungen auf die Hotspots ihres Gesicht – der Knochen unterhalb ihrer Braue, ihre Schläfe, die winzige Kuhle in ihrer Oberlippe, die Vertiefung oberhalb ihres Schlüsselbeins, doch nun, da sie splitternackt auf dem Deck lag, hatte sie offenbar keinerlei Scheu, die weiche Wärme ihrer Brüste, den Schwung ihrer Hüften oder ihre Achselhöhle zu befühlen – allesamt Körperteile, denen sonst lediglich Aufmerksamkeit zuteilwurde, wenn sie im Bett waren. Allein. Doch nach den Vorfällen des gestrigen Abends hatte sie offenkundig jegliche Hemmung abgelegt,
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