Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Blick über den Rand ihrer Brille hinweg zu. »Morgen ist Freitag, der Dreizehnte«, sagte sie und riss ihre blutunterlaufenen Augen auf. »Nimm dich vor dem Freitag, dem Dreizehnten in Acht.« Sie machte eine ominöse Kreisbewegung mit den Händen, dann stand sie auf und stieß einen tiefen Seufzer aus, als hätten sie ihre Prophezeiungen zutiefst erschöpft. »War’s das?«, fragte ihr Vater grob.
Sie schlenderten über den Jahrmarkt und landeten schließlich beim Autoscooter, wo sie zusahen, wie die Wägelchen langsamer wurden und vollends zum Stehen kamen. Clemmie umklammerte die Hand ihres Vaters, während er sie quer durch die Massen über den glatten Kunststoffboden zog und in einen roten Wagen sprang. Dann ging es los – die Wägelchen flitzten umher und rempelten einander an, begleitet vom schrillen Kreischen und ohrenbetäubender Musik. Clemmie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die funkelnde Disco-Kugel über ihnen.
»Was jetzt? Was jetzt?«, rief sie, als die Fahrt endete und er sie aus dem Wagen hob. Inzwischen war er ebenso ausgelassen wie sie. Offenbar hatte er ihre Mutter völlig vergessen. Sie gingen zu einer Schießbude, wo er ihr einen Affen schoss. Sie klemmte ihn sich unter den Arm und schob sich neben ihm durch die Massen. Es gab so viel zu sehen. Die bunten Lichter verliehen dem abendlichen Himmel ein tiefes, sattes Blau. Mittlerweile hatte sie kalte Füße in ihren nassen Schuhen, sagte jedoch nichts. Sie blieben bei einem Fahrgeschäft namens Walzerglück stehen und beobachteten wie gebannt die Leute in den überdimensionialen Kaffeetassen, die umhersausten, sich immer schneller um die eigene Achse drehten und einander dabei nur um Haaresbreite verfehlten.
»Das! Das will ich auch!«, schrie Clemmie und sah ihren Vater an.
»Bist du sicher?«
»Ja. Das machen wir!«
»Aber nach drei Tüten Eiscreme wird dir bestimmt schlecht!«
»Nein, mir wird nicht schlecht. Ganz sicher nicht. Bitte, Daddy.«
Also warteten sie, bis die Tassen zum Stehen kamen und die Leute mit wackligen Beinen ausstiegen. Die Hand ihres Vaters fest umklammernd, folgte sie ihm in eine blaue Tasse, die genauso aussah wie das Sonntagsporzellan ihrer Oma. Ihr Vater stopfte sich den Affen in die Tasche, während sie darauf warteten, dass sich die anderen Tassen füllten. Unterdessen hüpfte ein Mann von Tasse zu Tasse und streckte den Leuten seine tätowierte Hand hin, um das Fahrgeld zu kassieren, ehe er die Sicherheitsbügel nach vorn zog.
»Gut festhalten«, warnte eine Lautsprecherstimme, dann ging es auch schon los. Ganz langsam begannen sich die Tassen zu drehen. Whooosch. Whooosch.
Um ein Haar wären sie mit der Tasse neben ihnen kollidiert, in der ein paar Jungs saßen. Sie schrie vor Freude auf. Siehst du, ich hab dir doch gleich gesagt, dass es Spaß macht!
Allmählich nahmen sie immer mehr Tempo auf. Clemmie spürte, dass sie quer über den Sitz rutschte. Sie wünschte, sie hätte ihre rote Strumpfhose nicht angezogen. Trotzdem machte es Riesenspaß. Alle schrien vor Freude. Ihr Vater grinste. Der Wind zerzauste sein lockiges Haar, sodass es auf einer Seite abstand. Er hatte den Arm um sie gelegt. Clemmie rutschte wieder nach hinten, während die Tasse wild herumschlitterte. Immer schneller fuhren sie. Fremde Gesichter kamen ihnen entgegen und verschwanden wieder. Sie umklammerte die Sicherungsstange so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Und die Tasse wurde immer schneller. Eigentlich sogar zu schnell. Sie bekam die Füße nicht auf den Boden. Ihr Vater musste seinen Arm wegnehmen und sich mit beiden Händen festhalten, und sie konnte ihn nicht länger ansehen, weil sie all ihre Kraft brauchte, um nicht kreuz und quer umhergeschleudert zu werden. Wegen ihres geringen Körpergewichts und ihrer rutschigen Strumpfhose schlitterte sie unkontrolliert auf dem Sitz herum.
Mit einem Mal war es überhaupt nicht mehr lustig. Sie rutschte, konnte nichts dagegen tun. Sie versuchte, die Füße auf den Boden zu bekommen, doch ihre Beine waren zu kurz, und nun schaffte sie es noch nicht einmal mehr, sich auf den Sitz zurückzuschieben. Sie spürte, wie sie unter der Stange hindurchzugleiten drohte.
»Anhalten!«, schrie sie. »Mach, dass es anhält, Daddy!« Doch er konnte sie nicht hören. Gleich würde sie hinausrutschten. Sie wusste es. »Anhalten!«, kreischte sie. Die Angst drohte sie zu überwältigen. Sie war wie erstarrt vor Entsetzen, Übelkeit stieg in ihr auf. Sie würde sterben – sie
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