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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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irgendjemand sie wohl hören konnte. Johnny sah mit zusammengekniffenen Augen gen Horizont. Es war ein echter Scheißtag; sie saßen im wahrsten Sinne des Worts fest, ausgebremst von der nicht enden wollenden Flaute. Dieser Zustand könnte ohne Weiteres noch eine halbe Ewigkeit andauern.
    »Ich finde nicht, dass ihr uns verlassen solltet, Johnny«, sagte Frank, der einmal mehr seine Gedanken gelesen zu haben schien.
    »Unter diesen Umständen ist es sowieso völlig ausgeschlossen«, gab Johnny zurück und hielt weiter beharrlich nach Wind Ausschau.
    »Das wird schon mit euch beiden«, fuhr Frank leise mit einem Blick auf Clem fort. »Lösungen kann man nicht erzwingen, Johnny. Sie müssen von ganz allein kommen.«
    Den Blick auf Frank gerichtet, griff Johnny nach seinem Tabak. Annie riss eine weitere Handvoll Federn aus und warf sie über Bord. Johnny sah zu, wie sie wippend auf den Wellen dahintrieben.
    »Ihr beide steht am Anfang einer Reise«, erklärte Frank. »Und eine Geburt geht nun mal nicht ohne Schmerzen über die Bühne.« Er tippte sich eine Zigarette aus dem Päckchen und fing sie zwischen den Lippen auf.
    »Als wüsstest du so genau darüber Bescheid«, warf Annie ein und verdrehte die Augen.
    »Sei nicht sauer auf sie«, fuhr Frank fort, ohne auf Annies Bemerkung einzugehen, und zündete sich die Zigarette an. »Oder auf uns.«
    Johnny sah ihn an. Er wollte nicht, dass Frank aufhörte zu reden.
    »Wenn man wegen etwas oder jemandem frustriert oder wütend ist, Johnny, sollte man sich immer vor Augen führen, dass in Wahrheit gar nicht derjenige oder die Situation dafür verantwortlich ist, sondern die eigenen Gefühle, die man damit verbindet.«
    Er beugte sich vor und gab Johnny Feuer. Johnny lehnte sich zurück und sog tief den Rauch ein, ohne den Blick von Frank zu lösen. »Aber manchmal ist vielleicht doch jemand anderes schuld, Frank«, wandte er ein.
    »Mag sein. Trotzdem sind es deine Gefühle, die du damit verknüpfst. Deine ureigenen Gefühle, nicht die eines anderen Menschen. Du bist für dein Handeln verantwortlich, Johnny. Und verantwortlich zu sein, heißt, dass man nicht etwas oder jemand anderes dafür zur Rechenschaft zieht.« Er lächelte voller Verständnis und Zuneigung. »Nicht mal dich selbst.«
    Wieder einmal gelang es Frank scheinbar mühelos, Johnny zu besänftigen. Seine Worte wirkten wie ein lindernder Balsam auf seine spröden, widerborstigen Gedanken. Das Schlimmste war das Gefühl, die Dinge nicht unter Kontrolle zu haben, ihnen ausgesetzt zu sein, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Er blickte auf die ausgerupften Federn im glasklaren Wasser, die hinter ihnen herschwammen, so weit das Auge reichte. Die Little Utopia trieb mit einem Federschwanz im Kielwasser dahin, während die Zeit gerade so schnell verging, dass man sie mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmen konnte.
    Er schloss die Augen und holte tief Luft, während er vorsichtig in sich hineinhorchte. Zu seinem Erstaunen registrierte er, dass die Eifersucht nicht länger schmerzend in seinem Innern brannte; er fragte sich, wovor er solche Angst gehabt hatte. Wovor fürchtete er sich? Dass Clem aufhören könnte, ihn zu lieben? Dass sie Frank lieben könnte? Sie wird dich immer lieben . Hatte sein Vater nicht genau das nach dem Tod seiner Mutter zu ihm gesagt? Diese Liebe wirst du niemals verlieren. Wenn Clem Frank liebte … Na und? Johnny liebte Frank doch ebenfalls. Alles würde sich in Wohlgefallen auflösen, und eines Tages wäre alles, was sie heute erlebten, nichts als eine Erinnerung.
    Johnny sah zu, wie die Qualmwolke seiner Zigarette reglos über dem Cockpit schwebte, dann blickte er zu Frank hinüber, der wieder zu spielen begonnen hatte. Die Melodie kam ihm vage bekannt vor; ein Song, den seine Mutter früher immer gesungen hatte.
    »The day breaks … Your mind aches … You find that all her words of kindness linger on when she no longer needs you … She wakes up …«
    Johnny lehnte sich zurück und lauschte, den Blick wie immer aufs Wasser gerichtet. Wie schaffte Frank es bloß, scheinbar jede Situation auf Anhieb zu erfassen, zum Kern vorzudringen und herauszufinden, was wirklich los war, den Keim der Wahrheit zu finden? Sein Gehirn schien wie ein Sieb zu funktionieren, das alles aussortierte, was nicht von Bedeutung war. Annie hatte vollkommen recht – Frank sah alles. Er fragte sich, wie Frank wohl gewesen sein mochte, als er so alt gewesen war wie er heute. Wie gern hätte er ihn

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