Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
ausgezeichnet. Weder Clem noch Johnny waren jemals Zeuge einer derartigen Vorstellung geworden – die Souveränität, die Tonlage, die verführerische Mimik. Smudge war unglaublich.
Clem presste sich die Hand vor den Mund, um ihr Gelächter zu kaschieren.
Smudge musste Manche mögen ’ s heiß gesehen haben, denn sie bot die Posen und den Gesang mit beinahe beängstigender Akkuratesse dar. »I want do be kissed by you, just you … boo booobee doo . « Sie zeigte mit dem Finger auf Johnny und wippte im Takt, woraufhin prompt eine Socke aus ihrem Dekolleté fiel. Mit professioneller Lässigkeit bückte sie sich, hob sie auf und stopfte sie wieder hinein, ohne ihren Gesang zu unterbrechen. »I couldn’t aspire … to anything higher …«, trällerte sie mit ihrer glockenhellen Kinderstimme und zog sich das Höschen hoch. »… than to fell the desire … to make you my own …«
Johnny wischte sich die Lachtränen ab und rang noch immer verzweifelt um eine ernste Miene, was ihm jedoch jämmerlich misslang, als der Instrumentalteil erklang und sie sich mit klackernden Absätzen um die eigene Achse drehte und die Schlusspose einnahm. »I want to be loved by you alone … deedily deedily deedily dum … boop boop bee doop!«
Sie klatschten und jubelten begeistert. Smudge trat sich die Schuhe von den Füßen und sonnte sich in ihrem verdienten Applaus. »Noch eins!«, verkündete sie und lief die Kombüsentreppe hinunter.
»Ich glaube, das genügt«, rief Frank ihr hinterher.
»O mein Gott!«, rief Clem, immer noch lachend. »Sie ist unglaublich. Bestimmt geht sie eines Tages auf die Bühne!«
Strahlend wandte Frank sich Clem und Johnny zu und legte seine Gitarre beiseite. »Und, wie sieht’s aus? Bleibt ihr noch eine Weile bei uns oder was?«
Clem und Johnny sahen einander an, während ihr Lachen verebbte.
»Wir werden sehen«, erwiderte Johnny. Entscheidungen waren bedeutungslos, solange man bei völliger Windstille in einem Boot über die offene See trieb.
Viel später – inzwischen hatte sich seine Stimmung merklich gehoben – warf Johnny den Motor an und steuerte die Little Utopia in eine weitere verwaiste Bucht, wo sie über Nacht vor Anker gehen würden. Sie waren bestenfalls zehn Meilen weit gefahren, doch inzwischen hatte Johnny vereinzelte dünne Wolken am Himmel ausgemacht, die Wind verhießen – Wind, der sie weiterbringen würde. Die Bucht war von drei Seiten von hohen Bergen umgeben. Raubvögel stürzten sich von den Hängen, um Jagd auf Kaninchen, Nager oder sonstiges Getier zu machen, das auf ihrem Speiseplan stand. Die Sonne ging unter. Sie saßen im Cockpit, tranken Wein und lauschten dem unheimlichen Heulen der Wölfe in den Bergen.
In den frühen Morgenstunden saßen sie um den Küchentisch herum, betrunken und in konzentriertem Schweigen bei einer Partie Five Hundred. Sie spielten bereits seit Stunden und hatten dabei eine Flasche Wein nach der anderen vernichtet. Five Hundred war ein hoch kompliziertes Spiel, doch allmählich hatten sie den Dreh raus. Es ging darum, sich mit einem Partner zusammenzutun, zu reizen und möglichst hoch zu stechen. Clem hatte dreimal hintereinander den höchsten Trumpf, die Karo zwei, ausgeteilt bekommen, und sie und Johnny entpuppten sich als erstklassige Spieler, die Frank und Annie das Leben ziemlich schwer machten. Johnny liebte Kartenspiele; sie hatten etwas erfrischend Schnörkelloses an sich – es gab klare Regeln, keinen Verhandlungsspielraum. Entweder man gewann, oder man verlor. Er hatte Zahlen, die Präzision von Mathematik, schon immer gemocht. Bei der nächsten Runde tat er sich mit Annie zusammen, während Clem sich Frank als Partner auswählte. Zwischen Clem, Frank und Johnny entbrannte ein wilder Konkurrenzkampf, wohingegen Annie die Strategie verfolgte, ihrem Partner auf dem Weg zum Sieg möglichst wenige Steine in den Weg zu legen. Johnny fiel auf, dass sie sich mächtig in Schale geworfen hatte. Sie trug eine saubere weiße Bluse ohne BH darunter und hatte Wimperntusche und Glitzerzeug auf die Lippen aufgetragen, als wollte sie zu einer Kneipentour aufbrechen – wozu es definitiv nicht kommen würde. Das nächste Kaff konnte Gott weiß wie weit entfernt sein.
Frank und Clem gewannen zweimal nacheinander haushoch, und Frank war mit Geben an der Reihe. Clem nuckelte eifrig am Daumen, als die Karten vor ihr auf dem Tisch landeten, und massierte sich einen ihrer Hotspots hinter dem Ohrläppchen, als hänge ihr Leben davon ab.
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