Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
dachte, das sei der Grund, weshalb du hier herumliegst und dich die ganze Zeit befummelst.«
Sie nahm die Sonnenbrille ab, um ihn besser sehen zu können.
»Er hat noch nicht mal zu dir herübergesehen«, fuhr Johnny fort und korrigierte leicht das Ruder. Er war alles andere als stolz auf sein Verhalten. Mittlerweile wusste er noch nicht einmal mehr, ob die Eifersucht schuld war, oder ob er lediglich Streit suchte. Sie starrte ihn finster an. So hatte sie ihn noch nie angesehen; diesen Blick hob sie sich sonst für ihren Vater auf.
»Wieso fragst du nicht einfach, was du in Wahrheit fragen willst?«, sagte sie. »Wieso fragst du mich nicht, ob ich lieber mit ihm schlafe als mit dir?«
Und so hatten sie auch noch nie miteinander gesprochen – andererseits waren die Umstände alles andere als gewöhnlich. Johnny schnappte Franks Zigarettenpäckchen vom Sitz und zündete sich eine an. Seine Finger zitterten leicht. In diesem Moment hasste er sie. Und sich selbst ebenfalls.
»Und? Ist es so?«, fragte er so schnippisch, wie er nur konnte.
Sie nahm sich ebenfalls eine Zigarette. »Es war anders«, sagte sie.
Falsche Antwort . Er hob den Kopf, um zu überprüfen, ob das Segel sich aufgebläht hatte, ob der Wind abgeflaut oder ob der Himmel herabgestürzt war – alles, nur um sie nicht ansehen zu müssen. Er hat noch nicht mal dich dabei angesehen, sondern mich . Es war entsetzlich, furchtbar, sich mit ihr zu streiten.
Seufzend zog sie die Beine an und wandte sich von ihm ab. Er konnte ihr Gesicht zwar nicht erkennen, doch ihm entging nicht, wie sie sich mit einer unwirschen Bewegung über die Augen fuhr. »Du hast damit angefangen …«, sagte sie.
Er hatte sie zum Weinen gebracht. Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt und sie gestreichelt, doch er konnte sich nicht dazu durchringen.
»Du hast damit angefangen, Johnny. Du hattest auch Sex mit ihr, und jetzt tust du so, als wäre ich diejenige, die einen Fehler gemacht hat«, fuhr sie fort, als sie sich ihm wieder zuwandte.
Sie hatte recht. Er sah ihr an, wie unglücklich sie war, und versuchte, ihr mit einem Blick zu verstehen zu geben, dass es ihm leidtat.
»Lass uns von diesem verdammten Boot verschwinden«, sagte sie, während er ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange wischte. Die Geste hätte zärtlich sein sollen, doch es gelang ihm nicht, sie auch so wirken zu lassen. Allem Anschein nach hatte er seine Fähigkeit zur Zärtlichkeit eingebüßt. Ja, sie mussten dringend weg von hier.
»Wir brauchen Wind«, erwiderte er. »Uns geht bald der Diesel aus.«
Am Nachmittag herrschte absolute Windstille, und das Meer erstreckte sich in seiner glatten, glitzernden Endlosigkeit vor ihnen. Sie waren gefangen, mitten auf dem offenen Meer. Die Segel hingen schlaff herab, und der Baum schwang träge hin und her. Sein Kopf tat immer noch weh. Das Boot bewegte sich kaum vom Fleck. Rings um sie herum schwammen Delfine – sie kamen auch problemlos ohne Wind zurecht –, und etwa hundert Meter vor ihnen tauchten die stumpfen Nasen von pilzfarbenen Walen aus dem Wasser auf. Frank hatte sie sofort im Lexikon nachgeschlagen, während Johnny maulte, wieso die Leute ständig die Namen von allem und jedem in Erfahrung bringen mussten, statt die Dinge einfach nur wahrzunehmen. Musste alles mit einem Etikett versehen und kategorisiert werden? Seither schien Frank ihn aufmerksam im Auge zu behalten, als würde ihm seine miese Stimmung Sorgen bereiten.
Annie saß im Cockpit – sie hatte sich einen leichten Sonnenbrand auf dem Rücken geholt und ein geblümtes Sommerkleid übergezogen, das Johnny noch nie an ihr gesehen hatte – und rupfte das Huhn. Sie hielt das Tier mit einer Hand fest und riss ihm mit beherzten Bewegungen die Federn aus, die sie über Bord warf. Ein Teil davon verfing sich am Bug und legte sich wie ein weißer Schnurrbart auf die grün gestrichene Bootsschnauze, während der andere Teil als eine Art fedriger Schwanz in Kielwasser trieb. Smudge saß mit Clem am Bug. Gemeinsam sangen sie ein Kinderlied und lackierten sich die Fußnägel in derselben Farbe wie Grannys Krallen, über sich eine stinkende Acrylwolke, die sich nicht verziehen wollte.
Frank war in der Kombüse und klapperte mit dem Kaffeegeschirr. Er reichte Johnny und Annie eine Tasse, ehe er sich mit seiner Gitarre zu ihnen gesellte. Den Blick aufs Meer gewandt, strich er behutsam mit den Fingern über die Saiten. Die Klänge wehten weit über die offene See. Er fragte sich, ob
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