Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
sich erinnerte.
»Clemmie«, fuhr sie fort. »Inzwischen allerdings nur noch Clem.«
»Tja, hallo«, sagte er. »Ich erinnere mich sogar noch ganz genau an dich.«
Sie klang völlig anders, als er es in Erinnerung hatte. Ihre Stimme war tiefer. Aber wahrscheinlich war sie einfach nur erwachsener geworden. Wenn er siebzehn war, musste sie fünfzehn sein. Ihre Familie war vor einigen Jahren aus Putney weggezogen und erst kürzlich in die Gegend zurückgekehrt. Wahrscheinlich meldete sie sich nur, weil sie seine Schwester sprechen wollte.
»Und? Ist deine Freundin inzwischen tot?«, fragte sie.
Er wusste genau, worauf sie anspielte, hatte aber keine Lust, dass ihm alle zuhörten, deshalb schob er mit der Schulter die Tür zu und wickelte sich die Telefonschnur um den Finger. Es war blanker Zufall, dass ausgerechnet er abgehoben hatte. Er war gerade von einer Überführung aus der Karibik zurückgekehrt und sollte schon bald ein weiteres Boot übernehmen, deshalb war es ein echter Glücksfall, dass sie ihn erwischt hatte.
»Was meinst du damit? Ich habe keine Freundin.«
»Du hast versprochen, mich zu heiraten, wenn deine Freundin tot ist.«
»Echt?« Er lächelte. »Welche war das noch mal?«
»Die, die verheiratet war.«
Die Affäre mit der Freundin seiner Mutter war längst Geschichte. Ihr Mann hatte Johnnys Socke mit dem eingenähten Namensschild darin unter dem Bett gefunden und ein bisschen Theater gemacht.
»Und?«
»Ich bin noch verfügbar«, antwortete er. »Wie wär’s, wenn wir vorher ein paar Mal miteinander ausgehen würden und so?«
Sie trafen sich im Blue Anchor in Hammersmith, als die Sonne unterging. Die Kneipe befand sich direkt am Fluss. Es herrschte Flut, und die Enten schwammen zwischen den Bäumen umher. Er war mit dem Motorrad gekommen, einer Triumph Tiger Cup, die er für einen Apfel und ein Ei bei Loot erstanden hatte und in Eigenregie auf Vordermann brachte. Obwohl er nagelneue Zündkerzen eingesetzt hatte, war die Karre auf der Brücke stehen geblieben, und er hatte sie den restlichen Weg zum Pub schieben müssen, weshalb er ein paar Minuten zu spät kam.
Er erkannte Clemence Bailey auf Anhieb wieder. Sie saß an einem Tisch im Freien und rauchte – als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan. Als sie ihn erblickte, stand sie auf und winkte. Er war genauso hin und weg von ihr, wie er gehofft hatte. Hinter ihr türmten sich atemberaubende, rosafarbene Wolken in der unterergehenden Sonne – ein Szenario, für das sie, zumindest teilweise, verantwortlich zu sein schien. Sie trug Jeans und ein weites Top, unter dem er die sanfte Wölbung ihrer winzigen Titten erkennen konnte. Unwillkürlich kamen ihm ihre nassen Brustwarzen in den Sinn, die sich an seiner Haut gerieben hatten.
»Hi«, sagte sie und sah völlig hingerissen in seine leuchtend grünen Augen.
Er strich sich mit einer Hand durch sein Haar, das vom Helm platt gedrückt war. »Hallo, Clemency Bailey«, begrüßte er sie, legte den Helm auf den Tisch und beugte sich vor, um sie zu küssen. Ein moschusartiger Duft stieg ihm in die Nase, leinölartig, wie frisch verlegte Teakplanken auf einem Schiffsdeck.
»Hallo, Jonathan Love. Du siehst gut aus.«
Sie ebenfalls. Sie sah sogar gigantisch aus, aber das würde er ihr nicht sagen – Mädchen wie sie durften sich nie zu sicher fühlen. »Ich gebe mir Mühe«, gab er ironisch zurück. Sein T-Shirt war mit Ölflecken übersät. Aber sie schenkte seinem T-Shirt ohnehin keine Beachtung, sondern sah ihm direkt in die Augen.
»Das mit deiner Mum tut mir leid«, sagte sie.
Seine Mutter war im Jahr zuvor gestorben. An Krebs. Am Ende hatte er sich in ihrem gesamten Körper ausgebreitet. Das einzig Gute war, dass sich keiner darum geschert hatte, als er durch die Abschlussprüfungen gerasselt war und die Schule geschmissen hatte. »Hast du dich schon mit meiner Schwester getroffen?«
Sie nickte.
»Was willst du trinken?«, fragte er.
»Ich nehme dasselbe wie du.«
Natürlich war sie noch nicht volljährig, genauso wenig wie er, aber das schien die Kneipenwirte nicht weiter zu kümmern. Er ging hinein, kaufte zwei Flaschen Bier, die er auf den Tisch stellte, und setzte sich hin. Dann schenkte er die beiden Gläser voll und schob ihr eines davon zu. Sie stießen an.
»Und?«, meinte er und blickte in ihre wunderschönen Augen. »Kommen wir gleich zur Sache … Willst du Weiß tragen?«
Später, als ein Gewitter losbrach, gingen sie nach drinnen und suchten sich einen Tisch
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