Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Tropfen fielen auf die glatte Wasseroberfläche. Annie starrte auf den Kuchen. Als sie ihn schließlich ansah, erkannte er die abgrundtiefe Qual in ihren Augen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein schlechter Mensch bin«, flüsterte sie.
Abermals spülte eine Woge der Übelkeit in ihm hoch. Er starrte sie an, während sich seine Hände fester um die Ruder schlossen, als er die Blätter im Wasser versenkte.
»Du weißt es«, sagte sie. Wieder und wieder schweifte ihr Blick furchtsam in Richtung Ufer, das noch immer hinter der Little Utopia verborgen lag.
»Was weiß ich?«, fragte er und räusperte sich. Er wollte dieses Gespräch nicht führen.
»Muss ich es laut sagen?«, erwiderte sie.
Sein Mund fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an. Er wartete, hoffte darauf, dass sie es abstritt, doch stattdessen kullerte ihr eine dicke Träne übers Gesicht, während sie auf den Kuchen in ihrem Schoß starrte. Ihre Tränen waren ihm egal, ihr Schweigen nicht. Es sagte alles, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Er sah zu, wie sie eine kleine Flasche Johnny Walker aus ihrer Tasche kramte und gierig mehrere Schlucke trank. Erst jetzt merkte er, dass sie völlig betrunken war.
»Bitte, hass mich nicht«, flüsterte sie.
Er starrte sie weiterhin an, ungläubig und fassungslos zugleich.
»Sag doch etwas«, fuhr sie fort.
Doch er konnte nicht. Er empfand nichts als Abscheu für sie.
»Sag doch etwas, Johnny.« Inzwischen strömten ihr die Tränen ungehindert übers Gesicht.
Er schüttelte den Kopf. »Wie konntest du nur?«
Sie nickte eifrig, als wolle sie mehr hören, als wünschte sie sich, er möge sie anschreien, sie bestrafen. »Früher war ich genauso wie du«, sagte sie. »Ich hielt es auch für falsch. Aber er hat es mir gezeigt.«
» Was hat er dir gezeigt? Wovon zum Teufel redest du überhaupt?« Er wollte, dass sie den Mund hielt. Er wollte nichts von alldem hören. Er ruderte schneller, als könne er ihr dadurch entkommen. »Du bist so was von abgefuckt.«
»Was soll ich denn machen?«, fragte sie mit verblüffender Eindringlichkeit. Ihre Wut schien der seinen in nichts nachzustehen. Ihr Gesicht war gerötet und fleckig.
»Du kannst dafür sorgen, dass es aufhört«, herrschte er sie an.
»Nein, das kann ich nicht, Johnny. Ich muss tun, was er sagt.«
»Übernimm verdammt noch mal Verantwortung, Annie. Genau darüber schwadroniert er doch die ganze Zeit, oder etwa nicht?«
Wieder schraubte sie die Whiskeyflasche auf und nahm einen Zug daraus, dann wühlte sie in ihrer Tasche nach ihren Zigaretten und versuchte panisch, sie anzuzünden. Sie brauchte mehrere Versuche, bis das Feuerzeug funktionierte. Sie sog den Rauch tief in ihre Lungen wie ein Junkie.
Er wandte den Blick ab und ruderte weiter. Inzwischen konnte man das Ufer erkennen, Smudges leuchtend rote Jacke, das Türkis von Clems T-Shirt. Er musste lediglich die nächsten vierundzwanzig Stunden hinter sich bringen, dann konnten sie endlich die Kurve kratzen.
Das Nikotin schien sie zu beruhigen. Sie sackte wie ein Häuflein Elend in sich zusammen. »Ich übernehme sehr wohl Verantwortung«, sagte sie leise, ohne den Blick vom Ufer zu lösen. »Ich hatte nur vergessen … Als ich gestern Abend dein Gesicht gesehen habe … den Ekel …«, fuhr sie leise fort.
Er wandte sich um und blickte aufs Meer hinaus. Wind. Käme doch nur endlich Wind auf, stattdessen saß er hier fest, mit ihr. Der Frau, die Dinge sagte, die er nicht hören wollte.
»Es hat mich daran erinnert, wie ich früher war … Ich war genau wie du … Ich habe genau dasselbe gesagt.« Sie wischte sich mit der flachen Hand die Tränen ab, doch der Strom wollte nicht versiegen. »Ich kann mich nicht länger selbst belügen.«
Unvermittelt beugte sie sich vor. Ihre Augen hatten dasselbe Blau wie der Himmel hinter ihr. Sie legte ihm die Hand aufs Bein. Ihre Finger gruben sich in seinen Schenkel. »Hilfst du uns, Johnny?«, flüsterte sie verzweifelt.
Er hielt mitten in der Bewegung inne. Ihr Kummer war beinahe mit Händen greifbar. »Wobei?«
»Von ihm wegzukommen. Du bist ihre einzige Chance.«
»Lass das.« Er schüttelte den Kopf. »Clem und ich werden von hier verschwinden, Annie. Wir gehen so schnell wie möglich von Bord. Ihr könnt euer krankes Leben allein weiterleben und tun, was euch immer euch in den Sinn kommt. Aber ohne uns.« Er tauchte die Ruderblätter wieder ins Wasser und machte einen langen, kräftigen Zug, der das Boot mehrere Meter weit
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