Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
sie, Krampfadern hatte und keinerlei Stilbewusstsein besaß. Als wären Äußerlichkeiten entscheidend. Doch allmählich begriff sie, dass Anziehungskraft eine ziemlich komplexe Angelegenheit war. Flüchtig dachte sie an ihren Vater; daran, wie sehr sie ihn geliebt hatte.
    »Ich würde etwas darum geben, zu wissen, was du gerade denkst«, sagte Frank.
    Sie löste den Blick vom Himmel und sah ihn an; seine breite, kaputte Schulter, seine riesigen, zärtlichen Hände, als er nach der Streichholzschachtel griff und die letzten Scheite unter dem Spieß aufeinanderhäufte. Dann öffnete er die Streichholzschachtel, nahm ein Hölzchen heraus und zündete es mit einer beherzten Bewegung an. Im hellen Schein der Sonne war die Flamme fast unsichtbar. Er bückte sich und hielt sie gegen die zusammengerollte Zeitung, die er unter die Scheite geschoben hatte. Dann blies er das Streichholz aus, schnippte es weg und setzte sich hin.
    »Ich habe an meinen Dad gedacht«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen. Bevor sie auf diese Reise aufgebrochen waren, hatte sie nur selten einen Gedanken an ihn verschwendet und schon gar nicht über ihn gesprochen. Nicht einmal mit Johnny. Er hatte keinerlei Stellenwert mehr in ihrem Leben.
    »Ihr steht euch nicht sonderlich nahe, stimmt’s?«
    »Gott, nein. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen.«
    Frank sah auf. »Eine Schande.«
    Sie zuckte die Achseln »Eigentlich nicht.« Doch er hatte recht. Es war eine Schande. Sie wollte lieber nicht an die vielen Dinge denken, für die sich ihr Vater eigentlich schämen sollte.
    »Für ihn, meine ich.«
    Sie lächelte. Es tat gut, seines Rückhalts sicher sein zu können. Sie sah zu, wie er behutsam im Feuer herumstocherte, wie die Funken aufstoben und auf seine Finger fielen. Er zuckte noch nicht einmal zusammen, sondern strich sie in aller Seelenruhe weg. »Es ist eine Schande, dass er nicht weiß, zu was für einer wunderbaren jungen Frau du herangewachsen bist.«
    »Ich weiß nicht recht«, gab sie verlegen zurück, aber erfreut.
    »Ich schon«, erwiderte er. »Du bist intelligent, neugierig, offen, freundlich, positiv, liebevoll und großmütig – Eigenschaften, die sich ein Vater von seiner Tochter nur wünschen kann. Oh, und schlecht aussehen tust du auch nicht.«
    Ihr schwirrte der Kopf von seinen Worten; am liebsten hätte sie sie auf einem Blatt Papier niedergeschrieben gehabt, damit sie sie lesen konnte, wann immer sie Lust dazu hatte. Und damit sie die Liste eines Tages ihrem Vater zeigen konnte. Das bin ich!
    Sie ließ Sand durch ihre Finger rieseln und untersuchte die feinen Körnchen, die Muschelscherben, von der Kraft des Wassers über Jahrmillionen hinweg zermalmt. »Als ich so alt war wie Smudge, war mein Vater der tollste Mensch auf der ganzen Welt für mich«, sagte sie und lachte auf.
    »Desillusionierung im Hinblick auf die eigenen Eltern ist etwas völlig Normales.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Smudge mit dir jemals so gehen wird.«
    Er blickte zu seiner Tochter hinüber, die mit erhobenem Speer reglos im Wasser stand. Sie sah wie eine Wilde aus. »O doch, das wird es. Damit werde ich leben müssen.«
    »Sie haben mich in dem Glauben gelassen, alles sei in bester Ordnung. Bevor man sich trennt, sollte man sich doch anschreien und streiten. Das gehört doch dazu.«
    Er lehnte sich zurück und kreuzte die Knöchel. »Vielleicht war ja zuerst alles in Ordnung.«
    Dieser Gedanke war ihr nie gekommen. Daddys Verrat hatte jede Erinnerung an diese ersten acht Jahre getrübt. Dieser eine Schritt hatte das gesamte bisherige Glück ihres Lebens negiert. Wann immer ihre Mutter oder sie über die Vergangenheit sprachen, schienen ihre Sätze unweigerlich in dieser trostlosen Leere zu münden, selbst heute noch.
    »Manchmal muss man die Menschen verlassen, die man liebt«, fuhr er fort. »So ist das nun mal. Du kannst die Vergangenheit nicht ändern, Clem, völlig egal, was er getan hat oder nicht. Aber deine Einstellung dazu kannst du ändern. Sogar voll und ganz.« Er lächelte. »Er ist derjenige, der das Nachsehen hat. Und das ist ihm sicher auch bewusst. Du solltest Mitleid mit ihm haben – im wahrsten Sinne des Wortes. Mitleid.«
    Sie hatte das Gefühl, gleich in Tränen auszubrechen. Es war, als hätte er ihr die Erlaubnis gegeben, ihren Vater zu lieben – ein Gefühl, das sie seit Jahren nicht mehr gehabt hatte. Alle um sie herum schienen Jim zu verabscheuen, und es war so schön, sich die Liebe zu ihrem

Weitere Kostenlose Bücher