Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
durchs Wasser gleiten ließ.
»Ja«, sagte sie, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. »Natürlich.« Sie setzte sich zurück und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Kuchen, rückte eine schiefe Kerze gerade und drückte die Ränder zusammen. Ein Fisch durchbrach bei den Felsen die spiegelglatte Wasseroberfläche.
Sie stieß ein Lachen aus. »Ach, Johnny«, sagte sie, als hätte er nicht die leistete Ahnung, worum es überhaupt ging. »Er war kein gewöhnlicher Bulle …« Inzwischen weinte sie nicht mehr. Ihre Stimme klang tonlos und leer. Die Resignation, die darin mitschwang, gefiel ihm nicht. Tränen waren ihm lieber. Aber das war nicht sein Problem. Er wäre sowieso bald weg. Sie hatte den Kopf auf die Knie gelegt, ließ eine Hand durchs Wasser gleiten und starrte, gefangen in einem hässlichen Traum, blicklos aufs Meer hinaus. Als sie fortfuhr, war es, als sei sie sich seiner Anwesenheit nicht einmal mehr bewusst.
»Ich kann ihn nicht verlassen. Er würde mich finden, egal wo ich bin. Mein Leben wäre nicht mehr lebenswert. Ich müsste jeden Tag über die Schulter sehen, solange ich lebe.«
Das Kinn immer noch auf den Knien wandte sie sich langsam um, als würde sie ihn wieder registrieren. »Francis Goodman zieht sein Ding durch, und die Queen heftet ihm dafür einen Orden an die Brust. Francis Goodman, Commander of the British Empire und Mitglied der Polizei von London, hatte die einzigartige Gabe, aus absolut jedem ein Geständnis herauszuholen«, erklärte sie. »Sie haben ihn auf die schwierigsten Fälle angesetzt, auf die ganz harten Nüsse bei der IRA, zum Beispiel. Er hat sie dazu gebracht, dass sie wie die Babys geheult und sich in ihren Zellen in die Hose gemacht haben.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, so wie Frank es immer tat. »Der Samariter – so haben sie ihn genannt, weil er die Leute mit seiner Freundlichkeit kaltgemacht hat.« Sie hielt inne und schien neuerlich in ihrer tiefen Trübseligkeit zu versinken. Sie schnippte die Asche ins Wasser, dann nahm sie noch einen großen Schluck aus der Flasche, ehe sie sie Johnny hinhielt. Er nahm sie entgegen und stellte sie auf den Rudern ab, die wie Flügel in den Himmel ragten. Er fuhr sich mit den Handballen über die Stirn, massierte seine Schläfen, als könnte er auf diese Weise alles ausradieren, was er in den vergangenen Stunden erfahren hatte. Dann sah er zu Frank hinüber. Inzwischen hatte er Feuer gemacht, von dem eine Rauchsäule aufstieg und wegen des fehlenden Windes reglos über ihren Köpfen zu stehen schien. »Sie hatten sich zu einem Ring zusammengetan, er und einige seiner Kollegen«, fuhr sie fort. »Bei der Polizei.« Er sah die Falten an ihrem Hals, die von der Sonneneinstrahlung verschont geblieben waren. »Sie waren alle gleich. Haben sich gegenseitig fotografiert, auf Video aufgenommen und einander dabei zugesehen. Und einer hat den anderen gedeckt. Aber irgendwann sind sie unvorsichtig geworden. Jemand ist ihnen auf die Schliche gekommen. Jemand, der noch eine Rechnung mit ihnen offen hatte. Zwei von ihnen haben das Ganze nicht überlebt. Sie wurden von einem Hochhaus in die Tiefe gestoßen. Frank, den Kopf des Rings, haben sie verschont. Dafür haben sie ihn drei Tage lang in einem Zimmer eingesperrt, haben ihm Stromschläge verpasst, die Fingerspitzen abgeschnitten und allerlei Gegenstände in ihn hineingeschoben. Sie haben mit Bleirohren auf ihn eingeprügelt und ihm den Schädel, den Rücken und die Beine zertrümmert. Und dann haben sie ihn einfach zum Sterben liegen lassen.«
Er wusste, dass die Übelkeit, die seine Eingeweide im Würgegriff hielt, nie wieder vergehen würde. Sein Blick schweifte zum Ufer, wo Smudge bis zur Taille im Wasser stand, den Monsterspeer über dem Kopf erhoben. Er sah, wie Frank aufstand und wegging; wahrscheinlich, um noch mehr Holz fürs Feuer zu suchen. Sein Hinken war an Land deutlicher zu sehen als auf dem Boot, wo sich nur ein stark eingeschränkter Bewegungsradius bot. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Der Mann war korrupt bis ins Mark. Er wünschte, die Typen hätten ihm das Licht ausgeblasen.
»Ich war zu dieser Zeit mit Smudge schwanger …«, erzählte Annie weiter. »Natürlich hatte er sich ein Mädchen gewünscht, aber ich habe zu Gott gebetet, dass es ein Junge wird. Ich kannte ja seine Präferenzen. Ich wusste …«
Er konnte nicht weiterrudern. Es war, als hätte ihn sämtliche Kraft verlassen. Er starrte Annie an, hilflos ihren Worten
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