Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
ausgeliefert.
»Schließlich hat ihn die Polizei gefunden. Sie haben mir gesagt, dass er das Ganze nicht überleben würde, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, meine Gebete seien erhört worden. Aber ich war so erleichtert, Johnny. Aber gleichzeitig war ich am Boden zerstört. Kannst du das verstehen? Ich habe ihn gehasst, aber auch geliebt, verstehst du das?«, flüsterte sie, scheinbar erstaunt über die Widersprüchlichkeit ihrer Gefühle. »Du musst es verstehen. Ohne diesen Mann bin ich ein Nichts. Ein Niemand.«
Er wollte widersprechen, ihr sagen, dass das nicht stimmte, doch er war sich keineswegs sicher. Er dachte an Clem. Ohne sie war er ein Nichts. Ein Niemand. Kein Mensch konnte für den Rest seines Lebens als Schatten seiner selbst herumlaufen.
»Wie hat die Polizei reagiert?«, fragte er. »Haben sie die Augen zugemacht, euch des Landes verwiesen und ihm eine hübsche Pension gegeben?«
Sie nickte, schien ihm jedoch nicht richtig zuzuhören. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel hinauf. Er sah die bleichen Streifen an ihrem Hals, wo die Sonne die Haut nicht gebräunt hatte. »Ich weiß, dass es falsch ist, was wir tun, Johnny. Ich weiß, dass ich ein erbärmliches, wertloses Frauenzimmer bin. Aber er ist anders. Er ist stolz auf das, was er ist. Er war schon immer so. Und genau deshalb bin ich noch viel schlimmer als er«, gestand sie kleinlaut.
Trotz der schrecklichen Dinge, die sie gesagt hatte, empfand er so etwas wie Mitleid. Kurz verspürte er das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, ihr Trost zu spenden. Doch er tat es nicht.
»Annie«, sagte er. Langsam senkte sie den Kopf und sah ihn an. »Ich will nicht, dass Clem von alldem etwas erfährt. Verstehst du, was ich sage?«
Nickend zog sie wieder an ihrer Zigarette und ließ den Rauch in einem dünnen Strom entweichen. Sie verstand vollkommen. Clems Güte durfte nicht durch ihre eigene Schlechtigkeit besudelt werden. Sein oberstes Ziel war schließlich, Clem zu beschützen. Sie durften sie nicht beschmutzen, ihr wehtun, ihren Glauben an das Gute in der Welt erschüttern.
»Ich will nicht, dass du sie noch mal anfasst«, sagte er. »Hast du mich verstanden?«
Wieder nickte sie, und als sie aufblickte, sah er die Angst in ihren Augen. »Aber siehst du denn nicht, was er da tut, Johnny?«, sagte sie, und Johnny spürte die blanke Angst in sich aufsteigen. »Er züchtet dich als seinen Nachfolger heran.«
Er sah zu Clem hinüber, zu der Rauchsäule, die senkrecht über dem Lagerfeuer stand. Kein Lüftchen regte sich.
Die restlichen zwanzig Meter legten sie schweigend zurück. Während Johnny das Beiboot ans Ufer zog, gesellte Annie sich zu Frank und Clem, die mit ihren Büchern auf der Decke saßen und Kaffee aus der Thermoskanne tranken. Langsam schlenderte er zu ihnen hinüber. Sein Blick schweifte zu Frank, diesen Mann, über den er nicht das Geringste wusste. Es war, als wäre er nicht länger mit seinem Körper verbunden, sondern beobachte sich selbst wie aus weiter Ferne – wie er Höflichkeiten austauschte, sich zwischen Frank und Clem auf die Decke setzte, die Beine ausstreckte, den Kaffee entgegennahm, den Clem ihm reichte, sie anlächelte, das Feuer und den Speer bewunderte und an der heißen, geschmacklosen Flüssigkeit nippte. Erstaunlicherweise verspürte er keinerlei Wut, Verärgerung oder Streitlust – sein Inneres war wie losgelöst von ihm. Er hörte sich über einen von Franks Witzen lachen und ertappte sich dabei, dass ein dämliches Grinsen auf seinen Zügen lag. Als er es nicht länger ertrug, stand er auf und ging zum Wasser. Es war kalt. Flüchtig fragte er sich, welche Jahreszeit herrschte. Er hatte es vergessen. Die Luft war warm, das Wasser kalt. März. Oder vielleicht auch schon April. Seit wann waren sie auf der Little Utopia? Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Er war nicht länger der Johnny, der er einst gewesen war. Das Wasser fühlte sich herrlich an. Am liebsten hätte er sich von ihm verschlingen lassen. Er ging weiter hinein, bis zu den Knien, bis zu den Hüften, zur Taille, zur Brust und noch weiter. Clem würde staunen, wenn sie das sah; andererseits bezweifelte er, dass sie ihn bemerkte. Sie hatte ihn den ganzen Tag kaum zur Kenntnis genommen. Er ging weiter, bis seine Füße den Boden nicht länger berührten. Endlich fand er so etwas wie Zuflucht. Er strampelte mit den Beinen, drehte sich auf den Bauch und ließ sich treiben, während die
Weitere Kostenlose Bücher