Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Bruchteil einer Sekunde erstarrte Frank. »Mr Samariter? Das habe ich ja noch nie gehört. So sollen sie mich genannt haben? Die IRA?« Er wandte sich Annie zu. »Nicht die Fremdenlegion, Schatz? Oder der SAS? Es gibt so viele Versionen, dass ich sie schon nicht mehr auseinanderhalten kann.«
»Bitte nicht«, sagt sie und schraubte den Verschluss der Whiskeyflasche auf.
»Ich hätte es kommen sehen müssen«, sagte er und sah Johnny kopfschüttelnd an. »Ich kann mich nur entschuldigen. Das tut sie immer wieder. Ich hätte es merken müssen. Das gehört nun mal zu ihrer Krankheit.« Er winkte ab, als wisse Johnny genau, was er meinte.
Annie starrte Frank mit neu erwachter Qual an.
»Bitte, tu’s nicht«, wiederholte sie. Frank und seine Frau starrten einander feindselig an – dieser Krieg tobte unübersehbar seit einer Ewigkeit zwischen ihnen. »Nicht, Frank«, flüsterte sie noch einmal.
»Ich muss, Annie«, sagte er behutsam und kehrte dem Wrack an seiner Seite den Rücken zu, während sie einen weiteren Schluck aus der Flasche nahm.
»Hat sie dir auch von sich erzählt, Johnny? Nein? Hat sie dir auch erzählt, dass sie mehr Zeit in Anstalten verbracht hat als in Freiheit? Dass man sie andauernd einweisen musste? Dass wir verschwinden mussten, bevor sie sie wieder einsperren konnten? Dass ein Leben auf diesem Boot die einzige Möglichkeit für uns ist, zusammen zu sein? Hat sie dir erzählt, wie viele Diagnosen sie für ihr erbärmliches kleines Leben bekommen hat? Psychotisch … wahnhaft … schizophren … pathologische Lügnerin … geistesgestörte Kriminelle.« Er ratterte die Begriffe herunter, als läse er einen Einkaufszettel vor.
Annie fing zu schluchzen an.
»Stimmt das, Annie?« fragte Johnny erschüttert.
In ihren Augen lag ein Ausdruck abgrundtiefen Leids, als sie ihn ansah. Dann ließ sie den Kopf sinken, und ihre Schultern bebten.
»Ihr Vater war Arzt«, fuhr Frank fort, ganz leise, als würde er Johnny ein Geheimnis anvertrauen. »Er hat sie und ihre Schwester über Jahre hinweg missbraucht. Und sie wirft alles durcheinander, hab ich recht, Liebste?« Er legte ihr die Hand auf den Rücken.
»Annie! Sieh mich an. Ist das wahr, Annie?«, fragte Johnny.
Doch sie hatte sich zusammengekauert. Ihr Körper wurde von leisen Schluchzern geschüttelt.
»Ja«, schrie sie.
Frank stieß einen resignierten Seufzer aus. »Davon hat sie dir wohl nichts erzählt.«
Johnny starrte die beiden an und schüttelte fassungslos den Kopf. Er zog an seiner Zigarette und blickte zum Horizont. Wind, bitte komm endlich und mach, dass wir nicht länger bei diesen grauenhaften Menschen bleiben müssen.
Die Tankanzeige war nicht das Einzige, was kaputt war. Der Mann vom Automobilklub verbrachte eine halbe Ewigkeit unter der Motorhaube, schraubte hier herum, zog dort eine Abdeckung herunter und steckte sie wieder drauf. Am Ende konnte er den Schaden trotzdem nicht beheben, sodass sie nach London abgeschleppt werden mussten. Clemmie merkte genau, dass er sie nicht in seinem Transporter haben wollte. Sie sah den Blick, mit dem er den Zustand ihrer Kleider bedachte – an ihren Schuhen und ihrem Kleid klebte der rötliche Schlamm aus dem Maisfeld, und auch ihr Vater hatte sich ebenfalls schmutzig gemacht. Der Mann gab ihnen seine Zeitung, um den Fußboden und die Sitze abzudecken, sodass Clemmies Schuhe während der gesamten Rückfahrt auf den nackten Brüsten einer Seite-3-Schönheit standen.
Ihr Vater saß auf dem Fahrersitz, beide Hände ums Steuer gelegt, obwohl sie gar nicht fuhren. Es tat nur so – genauso wie er auch nur so getan hatte, als wäre er glücklich mit ihrer Mum verheiratet und hätte sich auf ihrem Ausflug ans Meer großartig amüsiert, obwohl er in Wahrheit am liebsten in Somerset gewesen wäre.
Sie starrte aus dem Fenster und sah den Regentropfen zu, die kreuz und quer über die Scheibe kullerten, sich zu langen Schlieren und dickeren Tropfen formierten, als ihr ein Gedanke kam: Was, wenn alles eine Täuschung war? Eine einziger großer Trick, eine Finte, und alle wussten Bescheid, nur sie nicht. Sie presste ihre Wange gegen die kalte Scheibe und stierte auf den dunkler werdenden Himmel. Sie beobachtete die Leute in den anderen Fahrzeugen. Ja, alle sahen sie ganz komisch an und ihre Lippen bewegten sich. Offenbar sprachen sie über sie. Sie schienen etwas über sie zu wissen. Ein Junge sah aus dem Rückfenster eines roten Autos, streckte ihr die Zunge heraus und lachte. Auch er wusste
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